Alte Meister im digitalen Gewand
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Januar 2023

Alte Meister im digitalen Gewand

Von Björn Carstens
Neue Technologien fegen durch die oft angestaubten Museen und machen die Kunstwelt fit für die Zukunft. Durch die Verschmelzung von Öl und Leinwand mit Bits und Bytes erobern alte Meister ganz nebenbei junge Märkte.

Als Michelangelo Buonarroti Anfang des 16. Jahrhunderts sein Meisterwerk „Die Heilige Familie“ (Tondo Doni) auf eine runde Holztafel malte, griff er zu Pinsel und Ölfarbe. So wie damals fast alle seiner Zunft. Mehr als 500 Jahre später erschufen italienische Pixelkünstler in Kooperation mit der weltberühmten Florentiner Kunstsammlung Uffizien Michelangelos Gemälde neu – als ultra-hochauflösende und mit einem eigens entwickelten Verfahren chiffrierte Bilddatei. Um den Avatar des Meisterwerks auf einem ebenfalls ultra-hochauflösenden Monitor sichtbar zu machen, braucht es einen speziellen Decoder und eine App. Neben einer analogen, vom deutschen Museumsdirektor Eike Schmidt unterzeichneten Urkunde garantiert diese aufwendige Verschlüsselung zum einen die Echtheit und die Provenienz der digitalen Kopie und schützt sie auch vor Manipulationen. Weil es insgesamt neun digitale Exemplare der „Heiligen Familie“ gibt, kann man zwar nicht von einem Unikat sprechen, aber doch von einem sehr raren Sammlerstück – obendrein offiziell abgesegnet von den Uffizien. Da greifen Kunstliebhaber schon einmal tief in die Tasche. Für 140.000 Euro wechselte ein Tondo-Doni-Avatar den Besitzer. Die Uffizien und die für die Digitalisierung verantwortliche Firma Cinello machten halbe-halbe. Gerade für Museen ist das eine interessante Nebenerwerbsquelle, insbesondere vor dem Hintergrund der durch die Corona-Beschränkungen vielerorts leeren Kassen. Außer den Rechten zur Digitalisierung müssen die Kunsthäuser nichts weiter einbringen – nur kassieren. Kein Wunder, dass Cinello auch mit weiteren Museen von Weltrang zusammenarbeitet.

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    Platz 3: 52,7 Mio. $
    brachte das NFT „Clock“ ein – ein Timer, der zählt, wie viele Tage WikiLeaks-Gründer Julien Assange im Gefängnis saß. Als das NFT Anfang 2022 verkauft wurde, drohte Assange eine lange Haftstrafe in den USA. Die anonyme Künstleridentität "Pak" und Assange sammelten bei der Auktion Geld für Assanges Rechtsverteidigung. © Pak, Clock. Source: censored.art
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    Platz 2: 69,3 Mio. $
    spielte der Verkauf von "Everydays: The First 5000 Days" ein. 2007 nahm sich der Künstler "Beeple" vor, jeden Tag ein neues Kunstwerk online zu stellen. 5.000 Tage lang schuf er täglich ein neues digitales Bild. Heraus kam "Everydays: The First 5000 Days". © Vignesh Sundaresan (MetaKovan)
  • Platz 1: 91,8 Mio. $erzielte das teuerste NFT aller Zeiten. 28.983 Sammler erwar ...
    Platz 1: 91,8 Mio. $
    erzielte das teuerste NFT aller Zeiten. 28.983 Sammler erwarben insgesamt 312.686 Anteile am Kunstwerk „The Merge“ von "Pak". © Barron’s
Die drei teuersten NFTs aller Zeiten

Uffizien-Direktor Schmidt, der in der Szene als fortschrittgetriebenes „Enfant terrible“ gilt, pinselt gern an neuen Denkmodellen, wie man die digitalen Möglichkeiten museal monetarisieren kann. Für sein Haus, aber auch ganz generell. Allen voran natürlich der Handel mit sogenannten Non-Fungible Tokens, kurz NFT. Diese fälschungssicheren, in einer Blockchain gespeicherten Digital-Zertifikate beflügeln die Kunstszene aktuell geradezu.

Schmidt kann sich auch vorstellen, Blockchain-basierte Minderheitenanteile an physischen Kunstwerken mit partizipatorischen Elementen zu veräußern. Anteilseigner können sich damit zum Beispiel das Recht sichern, ein Abendessen im exklusiven Kreis unter dem Tondo Doni zu zelebrieren. Denkbar sind auch Einnahmebeteiligungen an Sonderausstellungen oder eben auch der Verkauf von Lizenzen. Schmidt: „Ich halte das für eine interessante Möglichkeit. Auch wenn die partizipatorischen Rechte noch genau definiert werden müssten.“

Zur neuen, digitalen Denkweise gehört aber nicht nur, frische Einnahmequellen anzuzapfen, es geht vor allem auch um die Sichtbarkeit von Kunst und den Multiplikator World Wide Web samt all der damit verknüpften Technologien zur Vernetzung und Interaktion. Denn es gibt wohl kaum noch einen Bereich, der nicht die komplette Klaviatur der Digitalisierung spielen muss, um Schritt zu halten in einer Welt, in der alles mit allem und jeder mit jedem vernetzt ist. Museen sind schon lange nicht mehr nur Archivierungs- und Ausstellungsanstalten, die ausschließlich sammeln und bewahren. Auch sie müssen sich den innovationsorientierten Herausforderungen im digitalen Kulturmanagement stellen.

Schatzkammer der Medici wird digital

Die Uffizien sind einer der Vorreiter auf diesem Gebiet. Nicht nur als NFT-Verkäufer, auch gegenüber der Social-Media-Welt öffnet die Schatzkammer der Medici ohne Vorbehalte ihre Türen. Auf der Tiktok-Seite der Galerien sieht man Videos, in denen das Gemälde des jungen Papstes Leo X. den „Happy-Song“ zum Besten gibt und dabei animierte Grimassen schneidet. Worüber mancher Kunstfreund die Nase rümpfen würde, scheint die Zielgruppe anzusprechen. Über 140.000 Follower und 1,6 Millionen Likes lügen nicht. „Wenn wir die jüngeren Generationen kriegen wollen, müssen wir ihre Sprache sprechen“, weiß Schmidt. Auf Instagram sind die Uffizien schon seit Jahren aktiv. Regelmäßig lädt das Museum zu Online-Events ein, bei denen philosophisch diskutiert wird. Stichwort Interaktion – viele der mehr als 700.000 Follower beteiligen sich mittlerweile aktiv an intellektuellen Debatten. Die einfache Gleichung dahinter: Jeder User gleich ein potenzieller Besucher im Museum.

Alte Meister im digitalen Gewand
Uffizien-Museumsdirektor Eike Schmidt vor Michelangelos Meisterwerk (l.) „Die Heilige Familie“ (Tondo Doni)© Getty

„Je präsenter ein Werk im Digitalen ist, desto stärker ist die Nachfrage nach dem physischen Original.“

Eike Schmidt, Museumsdirektor der Uffizien in Florenz

Schmidt hat keine Angst, dass Kunst, die digital omnipräsent zur Schau gestellt wird, „analoge“ Besucher kosten könnte: „Es ist schon jetzt abzusehen, dass das Metaverse die Sehnsucht nach dem Original noch einmal deutlich weiter verstärken wird. Je präsenter ein Werk im Digitalen ist, desto stärker ist die Nachfrage nach dem physischen Original. Die Aura eines digital reproduzierten Kunstwerks wächst durch die Digitalisierung“, wird Schmidt in einem Interview mit dem Handelsblatt zitiert. Nur weil Museen auch online besucht werden können, fallen sie nicht als physische Orte der Kunsterfahrung weg.

Kunst weltweit zugänglich machen

Weltweit empfinden Museen und Ausstellungshäuser digitale Formate längst nicht mehr als Bedrohung, sondern nutzen sie als Chance. Wer auf die Kunstplattform Google Arts & Culture klickt, an der sich bereits mehr als 2.000 Museen weltweit beteiligen, erlebt virtuelle Rundgänge in der Manier von Streetview. Zu manchen Exponaten kann man hochaufgelöste Fotografien und Detailinformationen aufrufen. Gleichzeitig ist Google Arts & Culture auch eine Form der Archivierung und ein Zugänglichmachen von Kunst – denn wer kann in einem Menschenleben schon Tausende Museen auf diesem Erdball besuchen?

Ähnlich geht die graphische Sammlung der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich vor, die 50.000 Kunstwerke digitalisiert und frei zugänglich gemacht hat. „Wir machen Werke von Künstler:innen zugänglich, die sonst vielleicht unentdeckt bleiben würden, und setzen Kunst in einen Kontext. So erhalten Besuchende automatisch noch mehr Informationen und stellen neue Verbindungen zwischen den Kunstwerken her“, sagt Leiterin Linda Schädler auf der ETH-Homepage. Zudem bringe die Digitalisierung weitere Vorteile: „Bei uns ist der Träger des Kunstwerks fast immer Papier, das heißt die Werke sind sensibel. Wir müssen diese gut vor Licht geschützt in Boxen aufbewahren. Durch die Digitalisierung sind diese Kunstwerke auch dann sichtbar, wenn sie gerade nicht ausgestellt sind.“

Im Museum für digitale Kunst in Tokio gibt es zahlreiche interaktive Exponate zu bestaunen

Würde dagegen jemand im Museum für Digitale Kunst in Tokio den Stecker ziehen, wäre die Kunst nicht mehr existent. Denn Bilder, Skulpturen oder andere Exponate, die man berühren kann, gibt es nicht mehr. Alles ist animiert. 500 Computer und genauso viele Projektoren sorgen dafür, dass die Ideen der Kuratoren lebendig werden. Es wird mit Videos, Lichtskulpturen und Spiegeltricks gearbeitet. Der Besucher verliert sich in der labyrinthisch angelegten Ausstellung.

Museen brauchen nach wie vor zahlende Besucher

Zurück in die Uffizien und der Einnahmequelle NFT. Fakt ist: Museen brauchen zahlende Besucher nach wie vor: „Wir haben es bei den NFTs mit einer Einnahmequelle zu tun, die eine zusätzliche Nische versorgt. Sowenig ein Museum sich je aus dem Verkauf von Postkarten oder Gipsabgüssen finanzieren konnte, so ist es genauso unmöglich, sich heute digitale Reproduktionen als eine der Haupteinkunftsquellen vorzustellen“, erläutert Schmidt.

Das größere Potenzial sieht er bei der Kunst, die ausschließlich für den digitalen Bereich kreiert wurde: „Wenn wir an künstlerische Werke denken, die eigens für das Digitale geschaffen sind, bieten natürlich die Limitierung und die Authentifizierung durch die Blockchain Möglichkeiten, diese endlich sammelbar, handelbar und auch verleihbar zu machen. Daraus sind schon jetzt nachhaltige Geschäftsmodelle entstanden, was einzelne Künstler und Galerien angeht“, weiß Schmidt.

Kenner von Kunst wissen ohnehin: Der Einzug von Bits und Bytes in die Museen muss sie nicht verunsichern. Ureigenste Aufgabe von Kunst ist nämlich die Veränderung.

Virtuelle Konzerte

Gestreamte Konzerte waren in den vergangenen Jahren der Live-Entbehrungen nichts Ungewöhnliches, inzwischen gehen die Stars der internationalen Musikszene einen Schritt weiter und spielen als Avatare digitale Shows in bunten Gamingwelten. So wie US-Superstar Ariana Grande oder Rap-Ikone Travis Scott, deren digitale Erscheinungsbilder im beliebten Videospiel „Fortnite“ auftraten, unterlegt von echten Live-Aufnahmen. Das Publikum bestand natürlich ebenfalls aus Avataren. Für altmodisch sozialisierte Konzertgänger, die keine Lust auf Spielkonsolen haben, wäre eher die virtuelle Reunion von ABBA etwas. Deren im echten Leben in die Jahre gekommenen Bandmitglieder stehen seit Sommer 2022 als jüngere Hologramme ihres eigenen Ichs auf der Bühne. Auf einem gigantischen Bildschirm mit 65 Millionen Pixeln wirkt es so, als würden die 1970er-Jahre nochmal hallo sagen. Die Firma Industrial Light & Magic hat ganze Arbeit geleistet. Tausende von alten 35-mm-Negativen der Band und unzählige Stunden Konzertmaterial und TV-Auftritte wurden gescannt, analysiert und digitalisiert. Haare, Fingernägel, Make-up – jedes Details sollte stimmen.

Auftritt von US-Superstar Ariana Grande als Avatar in "Fortnite"
Abba-Reunion: alte Schweden als junge Hologramme