Anhalten!
Zeit ist das, was man an der Uhr abliest. Zugeschrieben wird das Zitat Albert Einstein – und es wäre schön, wenn es denn so einfach wäre. Immer scheint die Zeit zu fliegen und zu fliehen, sie drängt und drückt, zerrinnt zwischen den Fingern oder wird gar gefressen und geraubt. Sie lässt sich nicht anhalten, nicht gewinnen, sparen oder gar besiegen. Und auch wenn sich schon Shakespeare, Goethe, Marx oder Proust darum sorgten, wie rasant das Leben an Tempo zulegt, ist heute das Gefühl des Gehetztseins und der Ohnmacht das zentrale Merkmal unserer modernen Beschleunigungsgesellschaft. Eile mit Weile? Das war einmal, wenn überhaupt.
Wir leben länger, dennoch ist die Zeit knapp
Dabei ist es ja nicht so, dass der Mensch heute weniger Stunden zur Verfügung hätte als noch zu Goethes Lebzeiten. Im Gegenteil! Ganz abgesehen von der Tatsache, dass, wie Forscher herausfanden, sich ein Tag auf der Erde im vergangenen Jahrhundert um eine Millisekunde verlängert hat, werden wir älter und arbeiten weniger. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland verdoppelte sich in den vergangenen 130 Jahren – und vor rund 100 Jahren schuftete der Mensch 57 Stunden pro Woche. Heute sind es im Durchschnitt 35 Stunden.
Und dann wären da noch die verkürzten Wegzeiten: „Seit der industriellen Revolution scheint die Welt auf etwa ein Sechzigstel ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft“, schreibt der Soziologe Hartmut Rosa. Dauerte es im 18. Jahrhundert noch einen Monat, um von London nach New York zu gelangen, so benötigt man heute nur noch gut acht Flugstunden. Die Züge fahren schneller als früher, von Automobilen ganz zu schweigen. Gut, auf der anderen Seite beträgt das durchschnittliche Fahrtempo in Berlin 24 Kilometer pro Stunde. So schnell waren Postkutschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Da hilft wohl nur, dass der Mensch selbst einen Zahn zulegt. Tatsächlich nahm die Schrittgeschwindigkeit von Passanten in Industrieländern innerhalb nur eines Jahrzehnts um zehn Prozent zu.
Letztlich diente fast jede technische Errungenschaft – sei es nun der Fahrstuhl oder die Digitalisierung – der Zeitersparnis und hätte dazu führen müssen, dass dem Menschen mehr Zeit zur Verfügung steht. Doch nichts da! Anstatt die gewonnene Freizeit zu genießen, ächzen wir unter dem pausenlosen Termindruck. Wir hasten mittags zum Schnellimbiss und schlingen Fast Food hinunter, wischen mögliche Partner im Sekundentakt auf Tinder zur Seite, haben Freunde auf Speed Dial und schnappen uns bei Müdigkeit einen Coffee to go.
Rasender Stillstand
Das Problem ist, dass der moderne Mensch die Zeit als schwindenden Vorrat verkennt. Als eine knappe Ressource, die man schröpfen muss, solange man sie hat und die man tunlichst nicht sinnlos verstreichen lässt. Allerdings ist es mit der Wahrnehmung der Zeit auch so eine Sache. Haben wir Spaß, vergehen die Minuten wie im Fluge, schlagen wir uns mit Unerfreulichem herum, scheinen sie anzuhalten. Andersherum erinnern wir uns an das Schöne lang und breit – an das Unschöne aber nur flüchtig. Als „subjektives Zeitparadoxon“ wird dieses Phänomen bezeichnet, in dem sich erlebte und erinnerte Zeit gleichsam umgekehrt proportional zueinander verhalten.
Und wo die Zeit bleibt, während man über Stunden im Internet surft oder eine Fernsehserie guckt, das weiß der Himmel. Passend dazu prägte der kürzlich verstorbene französische Philosoph und Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio bereits vor über einem Vierteljahrhundert den Begriff des „rasenden Stillstands“. Ein Zustand, in dem wir untätig verharren, während das Tempo anzieht und wir uns fühlen, als zögen die Jahre im Zeitraffer vorbei. So sitzen oder stehen wir in der Gegend herum, starren auf Telefone, tippen hurtig Nachrichten und betrachten Meldungen und Life-Videos aus aller Welt. Zugegeben, da kann man schon ein bisschen durcheinanderkommen, was die Wahrnehmung und Organisation von Raum und Zeit angeht.
Laufend auf dem Laufenden
Und was machen wir dagegen? Gas geben. „Beschleunigung wird zum Ewigkeitsersatz“, formuliert Hartmut Rosa und meint damit, dass wir uns so sehr vor dem Tod fürchten, dass wir unter Zeitdruck – man hat ja nur ein Leben – zwanghaft alle Möglichkeiten immer rapider auszuschöpfen versuchen und dabei langsam, aber sicher erschöpfen. Die offizielle Bezeichnung dafür lautet „fear of missing out“ oder kurz „FOMO“. Gemeint ist damit die Besorgnis der Moderne, etwas Entscheidendes im Leben zu verpassen und nicht mehr auf dem Laufenden zu sein. Schuld sind erwartungsgemäß moderne Technologien wie Mobiltelefone und soziale Netzwerke – und Linderung ist nicht in Sicht: zum einen, weil sie unablässig neue Optionen generieren, zum anderen, weil wir die Gegenwart kaum mehr genießen können. Anstatt einfach mal am Meer zu sitzen und Wellen zu zählen, schießen wir Fotos und verfüttern sie an die unersättlichen Instagram- oder Facebook-Feeds.
Nun kann man sicherlich den einen oder anderen Entschleunigungsratgeber lesen oder kurzerhand sein Telefon aus dem Fenster werfen. Sinnvoller erscheint jedoch etwas anderes: Wir könnten versuchen, wieder die Stunden schätzen zu lernen, in denen schlicht und ergreifend nichts passiert, die Langeweile herrscht und der Moment sich unendlich zu dehnen scheint. Dabei sollte man nicht den Fehler machen, Langeweile als sinnlose Zeitverschwendung abzutun. Schon Goethe hielt große Stücke auf die Langeweile: „Wenn die Affen es dahin bringen könnten Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden.“ In diesem Sinne: Seien Sie ganz Mensch.