Auf dem Weg zur Bioökonomie
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Januar 2022

Auf dem Weg zur Bioökonomie

Von Volker Paulun
Mikroorganismen als Turbo-Recycler, Muscheln als Innovationsvorbilder oder künstliche Muskeln als Aktoren: Mit wissenschaftlichem Pioniergeist rüstet sich die Biotechnologie für den Kampf gegen den Klimawandel.

Hektisch bewegen sich die Zellklumpen in der Petrischale. Es sind sogenannte Xenobots, künstlich erschaffen aus Gewebe- und Stammzellen des namensgebenden Frosches Xenopus laevis. Die Mikroorganismen erinnern mit ihrer c-förmigen Gestalt an die Computerspiel-Figur Pac-Man. Angetrieben wird der Winzling durch hauchzarte Flimmerhärchen, die den Xenobots ebenfalls durch Zellmanipulation implementiert wurden. Bei ihrer scheinbar chaotischen Fahrt sammeln die Mikroorganismen Stammzellen ein, die aussehen wie Sandkörner auf einer Glasscheibe. Schnell formen sich vor ihren „Mündern“ Zellklumpen, die immer mehr aussehen wie die Ursprungsorganismen selbst. Die Xenobots sind dabei, sich selbst zu duplizieren. Es ist bereits ihre dritte Evolutionstufe: Zuvor hatten sie schon gelernt, sich zu bewegen und sich selbst zu reparieren.

Erschaffen wurden die Xenobots von einem Team aus Biologen der Tufts Universität in Boston (USA) und Informatikern der University of Vermont (UVM). Eine biotechnologische Kooperation, die gerade erst am Anfang steht. „Wir wollen, dass die Xenobots nützliche Arbeit leisten. Im Moment geben wir ihnen noch einfache Aufgaben, aber letztlich streben wir eine neue Art von lebendem Werkzeug an, das zum Beispiel Mikroplastik im Meer oder Schadstoffe im Boden beseitigen könnte“, sagt UVM-Robotikexperte Josh Bongard. Auch sollen Xenobots in absehbarer Zukunft helfen, Medikamente direkt an die Körperstellen zu transportieren, wo sie am wirksamsten sind, oder bei der Entdeckung und Behandlung von Krankheiten helfen.

Die Xenobots sind ein gutes Beispiel visionärer Biotechnologie – aber bei Weitem nicht das einzige. „Die Biologisierung der Industrie kann zu ebensolchen Fortschritten führen wie die Digitalisierung“, ist sich der Leiter für Zentrale Forschung und Innovation bei Schaeffler, Prof. Dr.-Ing. Tim Hosenfeldt, sicher.

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    Bionik – künstliche Muskeln: Klassische Aktoren wie hydraulische oder motorische Systeme stoßen bei einigen Anwendungen wegen ihres Gewichts oder ihrer langsamen Reaktionszeiten an ihre Grenzen. Künstliche Muskeln könnten hier zu einer leistungsfähigen Alternative werden. Forschende am Massachusetts-Institut für Technologie in Cambridge haben einen solchen Muskel entwickelt. Sie verwoben dafür zwei unterschiedliche Polymere zu einem Faserstrang. Die beiden Materialien dehnen sich bei Erwärmung unterschiedlich schnell aus, der Faserstrang wickelt sich spiralförmig auf und verkürzt sich. Durch diese Bewegung kann der künstliche Muskel mehr als das 650-fache seines Eigengewichts heben. Durch Bündelung mehrerer solcher Stränge kann ein echtes Kraftpaket entstehen, einsetzbar beispielsweise als Aktor in der Robotik, aber auch in der Medizin. Forschende der Johannes Kepler Universität in Österreich haben einen ringförmigen Polymermuskel entwickelt, der sich mit elektrischen Impulsen kontrahieren lässt. Mit ihm lässt sich die Brennweite einer Elastomer-Linse innerhalb von 260 ms zwischen 22 und 550 mm variieren – das entspricht der Fokussiergeschwindigkeit des menschlichen Auges. Einsatzgebiete könnten Handykameras oder auch Roboteraugen sein. © Getty
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    Bionik – Selbstschmierung wie beim Regenwurm: Die schmutzabweisende, gleitfördernde Schmierschicht des Regenwurms hat Forschende des Leibniz-Instituts in Saarbrücken zur Entwicklung eines Kunststoffes animiert, der sich selbst mit Schmiermittel versorgt. Das Material besteht aus einem weichen Kunststoff, in dessen Innerem sich Tröpfchen aus Silikonöl als Schmiermittel befinden. „Wenn wir Druck auf das Material geben, verändern die Tröpfchen ihre Form und wandern an die Oberfläche. Das Silikonöl verteilt sich dann gleichmäßig auf der Oberfläche zu einer wasser- und schmutzabweisenden Gleitschicht“, erklärt Jiaxi Cui, Leiter der Forschungsgruppe Schaltbare Mikrofluidik des Instituts. Verringert sich der Druck, bilden sich auch die Tröpfchen zurück. Die Wissenschaftler können sich zahlreiche Anwendungen in der Industrie und Biomedizin für das neue Material vorstellen. © Iris Mauer
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    Bio-Integration – das perfekte Bioplastik? Forschende der Universität Tübingen haben den Stoffwechselweg spezieller Cyanobakterien, gemeinhin als Blau­alge bekannt, so verändert, dass diese große Mengen des natürlichen Bioplastiks Polyhydroxybutyrat (PHB) herstellen. Über 80 Prozent des Zellgewichts einer gen-manipulierten Blaualge besteht aus PHB-Plastik. PHB hat den großen Vorteil, dass es nicht nur aus nachwachsenden Rohstoffen oder biogenen Reststoffen hergestellt wird, sondern auch natürlich abgebaut werden kann – und zwar durch ­Bakterien, Pilze oder Algen, die gegebenenfalls auch entsprechend modifiziert werden. Die Tübinger wollen den Einsatz der Bakterien nun weiter optimieren und so weit skalieren, dass ein großtechnischer Einsatz der bakteriellen Bioplastik-Fabriken möglich wird. © Getty
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    Bio-Integration – Lacke aus Pflanzenstärke: Immer mehr Beschichtungen und Lacke werden mit nachhaltigen Naturprodukten statt auf Rohölbasis hergestellt. Besonders beliebt: modifizierte Kartoffelstärke, die als Abfallprodukt aus der Nahrungsmittelproduktion gewonnen wird. Innenraumfarben auf Kartoffelstärkebasis sind bereits im Handel, weitere Einsatzbereiche für innen und außen sollen folgen. Besonders spektakulär ist ein selbstheilender Schutzlack auf Maisstärkebasis, den Forschende am Leibniz-Institut für Neue Materialien entwickeln. Er lässt oberflächliche Mikrokratzer unter Wärmeeinwirkung innerhalb weniger Minuten komplett verschwinden. Für die dafür notwendige Struktur der Lacke fädelten die Wissenschaftler ringförmige Abkömmlinge der Maisstärke, sogenannte Cyclodextrine, auf eine Schnur aus langkettigen Kunststoffmolekülen auf. Über eine chemische Reaktion werden die Perlenketten zu einem elastischen Netz verknüpft. Bei Wärmeeinwirkung wandern die Cyclodextrin-Perlen entlang der Kunststofffäden in den Kratzer zurück und füllen so die entstandene Lücke wieder auf. © Getty
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    Biomasse – Multitalent Qualle: Das 2021 abgeschlossene europäische Forschungsprojekt GoJelly hat Möglichkeiten aufgezeigt, Quallen nachhaltig zu nutzen. Die glitschigen Tiere liefern Milliarden von Tonnen Biomasse. Eine mögliche Nutzung: aus Quallen Biofilter herstellen, die in Klärwerken oder in Fabriken Mikroplastik herausfiltern. Ebenfalls könnte man Quallen in der Landwirtschaft als Dünger oder für die Bodenwasserspeicherung nutzen. Quallen könnten auch in deutlich größerem Maße als heute schon in einigen Regionen üblich in die Speisepläne aufgenommen werden. Rund 30 Arten sind zum Verzehr geeignet. © Getty
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    Biomasse – Strom speichern mit Holzbestandteilen: Rund 50 Mio. Tonnen des Holzbestandteils Lignin fallen jährlich weltweit als Abfallprodukt der Papierindustrie an – ein echter Nachhaltigkeits-Schatz. Das harzartige Polymer kann anstelle von erdölbasiertem Material zur Produk­tion von Kunststoffen, Medikamenten und Farben genutzt werden. Aber man kann Lignin auch einsetzen, um biobasierte organische ­Elektrolyte für sogenannte Redox-Flow-Speicher herzustellen. Schaeffler unterstützt das Start-up CMBlu bei der Entwicklung und Industrialisierung einer solchen „Organic-Flow-Batterie“. Diese sind bis in den Gigawattstunden-Bereich skalierbar und können als Ökostrom-Zwischenspeicher oder Lastspitzenkapper zu einem wichtigen Baustein der Energiewende werden. Organische Moleküle aus Lignin werden dabei genutzt, um Energie über einen Ionenfluss chemisch zu speichern und wieder abzurufen. Der Prozess ist langzeitstabil reversibel.
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    Bio-Intelligenz – Bissen mit Bits und Bytes:
    Gerade hinsichtlich der rasant wachsenden Weltbevölkerung setzen Wissenschaftler ebenfalls große Hoffnungen auf bio-intelligente Anwendungen in der Produktion von Nahrungsmitteln, angefangen von Smart-Farming-Lösungen, die dank KI-gesteuerter Datenanalyse Erntemengen erhöhen und gleichzeitig den Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden sowie den Wasserverbrauch senken, bis hin zu der künstlichen Herstellung von Fleisch. Utopie? Eher nicht. Das kalifornische Unternehmen Memphis Meats will in den kommenden Jahren Fleisch auf den Markt bringen, das im Labor aus tierischen Zellen kultiviert wird. Einer der Finanziers im Hintergrund ist Microsoft-Gründer Bill Gates. Einen anderen Weg geht das israelische Start-up Redefine Meat, das bereits Restaurants rund um den Globus mit veganem „Fleisch“ aus dem 3D-Drucker beliefert. Die Maschinen sollen bis zu 50 „Steaks“ pro Stunde drucken können, die sich auch dank der additiven Fertigung weder geschmacklich noch in der Konsistenz von echtem Fleisch unterscheiden sollen. © Getty
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    Bio-Intelligenz – Computer, die wie Gehirne denken: Aktuelle Computer schieben permanent Daten zwischen Prozessoren und Speichern hin und her. Das verschlingt viel Zeit und Energie. Die in der Entwicklung befindlichen neuromorphen Rechner arbeiten anders. Deren Chips sind wie das menschliche Gehirn strukturiert und verfügen über hochgradig vernetzte künstliche Neuronen und Synapsen, die Daten hochparallel bearbeiten und speichern können. Und was noch wichtiger ist: Neuromorphe Computer nutzen die Daten auch, um sich selbstständig weiterzuentwickeln und Probleme zu lösen, für die sie nicht eigens programmiert worden sind. Ein Blick auf den neuromorphen Chip „Loihi“ von Intel zeigt das Potenzial auf: Er ist schon jetzt 1.000-mal schneller und 10.000-mal effizienter als aktuelle Mikrochips mit konventioneller Architektur. Mit solchen Rechnern kann künstliche Intelligenz einen bedeutenden evolutionären Schritt machen – sei es beim Navigieren autonomer Fahrzeuge im Verkehrsgewühl, bei der Mensch-Maschine-Koordinationen in den Fabriken von morgen oder in der Humanmedizin als Ersatz menschlicher neuronaler Systeme wie Sehen oder Hören. Bis es so weit ist, kann es allerdings noch etwas dauern: Im Jahr 2020 verbanden Computerwissenschaftler 768 Loihi-Chips zu einem neuromorphen System. Dessen 100 Millionen künstliche Neuronen ermöglichten in etwa die Rechenleistung eines Mäusegehirns. Zum Vergleich: Das menschliche Gehirn enthält fast 90 Milliarden Neuronen, die über Billionen von Synapsen miteinander verbunden sind. © Getty
Schon da Vinci nutzte Biotechnologie

Hört sich Biotechnologie auch nach Science-Fiction an, so nutzt sie der Mensch schon lange in Produktionsprozessen. Ein jahrtausendealtes Beispiel ist der Einsatz von Hefen in der Brot-, Bier- und Weinproduktion. Heute sprechen Experten bei der Einbindung aktiver biologischer Komponenten in technische Prozesse und Produkte von Bio-Integration oder auch vielfach von „weißer Biotechnologie“.

Ein zweiter Bereich der Biotechnologie ist die Bio-Inspiration oder auch Bionik, also das Kopieren natürlicher Eigenschaften für technische Produkte und Prozesse. Als erster Bioniker gilt – man hätte es sich fast denken können – Leonardo da Vinci (1452–1519). Das Universalgenie konstruierte nach einem ausführlichen Studium des Vogelfluges Fluggeräte, Hubschrauber und Fallschirme. Farmer Michael Kelly wollte sein Vieh im Zaum halten und kopierte einen Dornenstrauch. Seinen Stacheldraht meldete er 1868 zum Patent an. Auch das ein frühes Bionik-Beispiel. Der 1959 vorgestellte erste Industrieroboter namens Unimate hatte eine unübersehbare Ähnlichkeit mit einem menschlichen Arm und war ebenso multifunk­tional einsetzbar. Bis heute folgen Knickarmroboter diesem bionischen Konstruktionsprinzip. In der Oberflächentechnik ist der Lotus-Effekt eine bekannte Bionik-Anwendung. Die komplexe mikro- und nanoskopische Architektur der Blattoberfläche der Lotuspflanze lässt Flüssigkeiten und Schmutzpartikel abperlen und wurde für Produkte und Anwendungen tausendfach kopiert.

Als dritter wichtiger und jüngster Bereich der Biotechnologie gilt die Biointelligenz. In diesem Feld finden Technik, Biologie und Informationstechnik zueinander. Biologische Elemente lassen sich dabei durch Datenverarbeitungssysteme regeln bzw. steuern und in ein technisches System integrieren. Populäres Beispiel: Schaltungen per Fingerabdruck- sowie Netzhaut-Scan oder die Sprachsteuerung künstlicher Intelligenzen wie Siri oder Alexa. Aber auch die oben beschriebenen Xenobots sind eine biointelligente Anwendung.

  • 118 %
    höher als vor 30 Jahren ist der globale Ressourcenverbrauch. Bis 2050 ist im Zuge des Bevölkerungswachstums auf weltweit rund 10 Mrd. Menschen mit einer weiteren Verdopplung zu rechnen.
    Quelle: Fraunhofer Institut
  • 99,9999 %
    der bekannten Bakterien sind für den Menschen und die Erde nützlich. Nur rund 600 Bakterien (<0,0001 Prozent) verursachen Krankheiten beim Menschen.
    Quelle: Leibnitz Institut
  • ca. 8 %
    der gesamten fossilen Öle werden für die Herstellung von Polymeren verwendet. Man geht davon aus, dass diese Zahl bis 2050 auf 20 % ansteigen könnte.
    Quelle: biomarketinsights.com
Schlüsseltechnologien gegen Klimawandel und Ressourcenverbrauch

„Die Natur ist die höchste Form der Selbstorganisation, über Jahrmillionen der Evolution optimiert. Es wäre grob fahrlässig, wenn wir dieses Potenzial nicht ausschöpfen würden, um die anstehendenden Herausforderungen des Klimawandels, des Bevölkerungswachstums und des Ressourcenverbrauchs zu meistern“, mahnt Schaeff­lers Forschungsleiter Tim Hosenfeldt. Überall auf der Welt wird daran geforscht, genau dieses zu tun: die Natur effizienter in Produktionskreisläufe und Wertschöpfungsketten zu integrieren – von der Materialgewinnung bis zur Zersetzung.

Global im Fokus stehen dabei Mikroorganismen und ihre Enzyme, jene komplexen Eiweißmoleküle, die in allen Lebensformen biochemische Reaktionen beschleunigen. Die Fortschritte in der Gentechnik eröffnen Forschenden in der Bio-Integration immer neue Möglichkeiten, mikrobiologische Prozessketten aufzusetzen. Eine ­Schlüsselfunktion hat dabei der enzymbasierte Stoffwechsel der Mikroorganismen. Und passt dieser nicht (was selten der Fall ist), wird er passend gemacht: Mit zielgerichteten Veränderungen der DNA („Genom Editing“) werden die Stoffwechsel der Mikroorganismen beeinflusst oder neu gestaltet („Metabolic Engineering“).

In den Laboren der Welt werden Mikroorganismen wie Bakterien, Pilze und Algen entwickelt, die Kunststoffe in Böden und Gewässern zersetzen oder in andere Recycling-Prozesse eingebunden werden können – bis hin zu radioaktiven oder toxischen Stoffen. Ebenso wichtig sind „produzierende“ Organismen, die helfen Lebensmittel, Medikamente, Pesitizide, Chemikalien, Werkstoffe oder auch Biotreibstoffe- und -gase herzustellen (siehe auch Bildergalerie).

Solche mikrobiologischen Prozesse haben einen weiteren Vorteil: Während konventionelle chemische Prozesse viel Energie und teilweise toxische Lösungsmittel benötigen, lassen sich Produkte mit Mikroorganismen bei milderen und energieeffizienteren Bedingungen produzieren – schließlich wachsen die Mikroben in umweltfreundlicheren wässrigen Lösungen.

Die Interaktion von Soft-, Hard- und Bioware ermöglicht eine nachhaltige industrielle Wertschöpfung

Prof. Dr.-Ing. Tim Hosenfeldt,
Leiter Zentrale Forschung und Innovation bei Schaeffler
Auf dem Weg zur Bioökonomie© Schaeffler
Transformation zur Bioökonomie

Der Handlungsdruck auf die Industrie, neue Prozesse durch Mikroorganismen zu etablieren, nimmt zu. Das sieht auch Schaeffler-Experte Hosenfeldt so: „Gesellschaft und Staat fordern Nachhaltigkeit ein. Die passende Antwort darauf ist eine Bioökonomie, die entlang der Wertschöpfungsketten von Produkten, Verfahren und Dienstleistungen auf nachwachsenden anstatt auf fossilen Rohstoffen basiert. Die Bio-Integration in Prozesse und Produkte prosperiert dank Fortschritten in der Gentechnik und ist weithin akzeptiert. Viele Akteure arbeiten Hand in Hand und sind marktgetrieben. Das wirkt sich ebenfalls beschleunigend aus.“

Auch die Hochschulen haben längst auf den Trend reagiert und bieten Studiengänge wie Konstruk­tionsbionik, Bioökonomie oder industrielle Biotechnologie an. Will eine solche Bioökonomie Basis für eine nachhaltige industrielle Wertschöpfung sein, muss sie auch die Herausforderung meistern, die benötigte Biomasse-Produktion für energetische und industrielle Zwecke so auszuweiten, dass weder Nahrungs- und Futtermittelproduktion eingeschränkt noch Naturräume zerstört werden. Hier kann die Biotechnologie ebenfalls entscheidende Beiträge leisten: indem sie hilft, nicht essbare Pflanzen und Pflanzenteile zu verwerten und minderwertige Anbauflächen zu optimieren. Auch bei einer weiteren Herausforderung sind biotechnologische Innovationen gefragt: Damit die nachwachsenden Ressourcen in sogenannten Bio-Raffinerien im industriellen Maßstab und wirtschaftlich tragfähig zu einer Vielzahl von Vor- und Zwischenprodukten weiterverarbeitet werden können, müssen hocheffizient arbeitende Enzyme und Mikroorganismen in großen Mengen zu einem geringen Preis zur Verfügung stehen.

Selbst das Klimagas Kohlendioxid kann sich in einer solchen Bioökonomie als Rohstoff in eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft einbringen. Die Initiative CO2EXIDE entwickelt aktuell einen elektro-chemischen-Prozess, in dem CO2, das der Atmosphäre entzogen wurde, genutzt wird, um Ethylenoxid zu produzieren. Dieses ist wiederum ein Vorprodukt zur Herstellung von Polyestern und Polyamiden. Die so entstehenden Kunststoffe hätten dann bei Nutzung regenerativer Energie einen negativen CO2-Fußabdruck. Schaeffler unterstützt das von der EU geförderte Projekt mit seinen Kompetenzen bei nanostrukturierten Beschichtungen für die Entwicklung von Katalysatoren.

Wobei der CO2-Fußabdruck nur ein Baustein einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft ist. Mindestens genauso wichtig ist die Frage, was mit den Produkten am Ende der Nutzung passiert. Beispielsweise lassen sich die meisten biobasierten Kunststoffe aktuell genauso wenig kompostieren wie die auf Rohöl basierenden Gegenstücke. Und auch bei der Wiederverwendung sieht es nicht besser aus. Daher besteht bei solchen „End-of-life“-Betrachtungen ebenfalls noch biotechnologischer Handlungsbedarf.

Die Natur kopieren

Dass die Grenzen zwischen den Bereichen der Biotechnologie durchlässig sind, zeigt ein Bionik-Forschungsprojekt des Exzellenz-Clusters UniCat in Berlin. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollten den Proteinklebstoff der Miesmuscheln kopieren, der zu den stärksten natürlichen Haftmitteln zählt. Dies ist ihnen gelungen – mit einem bio-integrativen Prozess. „Um diese Muschelproteine herzustellen, benutzen wir Darmbakterien, die wir umprogrammiert haben“, erläutert der beteiligte Prof. Nediljko Budisa. „Sie sind unsere Chemiefabrik, mit der wir den Superleim produzieren.“ Der durch Licht aktivierte Protein­klebstoff könnte beispielsweise genutzt werden, um gebrochene Knochen oder Zähne zu fixieren – eine ­Option, auf die viele Mediziner warten.

Die Natur bietet ein Füllhorn an genialen Funktionalitäten, die es zu kopieren lohnt. Seien es Fischkiemen als Mikroplastikfilter, Schwimmfarne als Vorbilder für reibungsreduzierte Oberflächen, Bambus als hoch belastbarer Leichtbau-Cham­pion oder der gute, alte Klettverschluss, der das Verhakungsprinzip der Klette übernommen hat (siehe Beispiele in der Bildergalerie).

„Bei vielen Aufgaben oder Problemstellungen, mit denen wir heute konfrontiert werden, lohnt sich der Blick in die Natur. Oft hat diese schon etwas entwickelt, das sich evolutionär durchgesetzt hat und das wir adaptieren können“, sagt Prof. Dr.-Ing. Tim Hosenfeldt. „Es ist sehr spannend zu beobachten, wie sich die Natur optimal an die Gegebenheiten und Anforderungen ihrer Umwelt anpasst. Dabei setzt sie sehr ressourceneffizient die zur Verfügung stehende Energie ein.“

Stichwort Ressourceneffizienz. Hosenfeldt nennt ein Beispiel aus der Schaeffler-Praxis: „Durch bionische Optimierung des Gehäusedesigns konnten wir die Masse eines Radlagers um 30 Prozent bei identischer Traglast reduzieren.“ Das von der Natur übernommene Prinzip des gezielten Weglassens schont nicht nur Ressourcen bei der Produktion, sondern auch bei der Nutzung. Entworfen wurde das bionische Bauteil mithilfe künstlicher Intelligenz. Es flossen also Technik, Biologie und Informationstechnik mit ein – womit wir bei der Biointelligenz angekommen sind.

Der Traum von selbstheilenden Materialien

Die Interaktion von Soft-, Hard- und Bioware stößt die Tür zu vielen neuen Anwendungsgebieten auf. Sie reichen von Datenspeichern auf DNA-Basis über Bio-Printing von Gewebe und Bio-Sensoren bis zu selbstheilenden Maschinen. Viele der Anwendungen befinden sich noch im Versuchsstadium. Zum Beispiel die Speicher auf DNA-Basis. Dort werden die Informationen nicht als aneinandergereihte Einsen und Nullen abgelegt, sondern in Form von DNA-Datensträngen, die aus den Bio-Grundbausteinen Guanin (G), Thymin (T), Cytosin (C) und Adenin (A) gebildet werden. Da diese DNA-Speicherstränge sehr verletzlich sind, brauchen sie eine Schutzhülle. Die Chemieingenieure Robert Grass und Wendelin Stark von der ETH Zürich haben eine solche aus Glaspartikeln entwickelt und wurden dafür mit dem Europäischen Erfinderpreis 2021 ausgezeichnet. Grass schätzt, dass in einem Gramm von Glas ummantelter DNA rund ein Exabyte Daten gespeichert werden, umgerechnet eine Million Terabyte. Wenn diese biointelligente Speichermöglichkeit zukünftig massenkompatibel einsetzbar sein wird, wären energiefressende Serverfarmen Geschichte.

Und wie realistisch sind selbstreparierende Maschinen? Programmierbare „lebende Materialien“ ähnlich den anfangs vorgestellten Xenobots könnten hier (aber auch bei vielen medizinischen Anwendungen) ein Schlüssel sein. „Im Gegensatz zu Materialien, die wir im Labor synthetisieren, hätten lebende Materialien die Fähigkeit zur Selbstheilung, zur Anpassung an die Umgebung und sogar zur Verbesserung ihrer Leistung während der Nutzung“, erläutert Professorin Aránzazu del Campo, wissenschaftliche Geschäftsführerin am Leibnitz-Institut für Neue Materialien.

Wie in vielen Bereichen der Biotechnologie ist der Weg noch lang bis ins Ziel. Aber ihn zu gehen ist angesichts der zu meisternden Herausforderungen durch den Klimawandel und das Bevölkerungswachstum unumgänglich. Die Natur zu nutzen, um sie zu schützen, ist dabei nur logisch. Oder wie es schon Charles Darwin ausdrückte: „Alles, was gegen die Natur ist, hat auf die Dauer keinen Bestand.“