Aus Masse wird Klasse
Technische Entwicklungen und Problemlösungen an der Natur zu orientieren, setzt sich im Konzept der Bionik immer stärker durch – warum ein Rad neu erfinden, das sich in der Natur bereits seit Jahrhunderttausenden oder länger erfolgreich dreht? Daher verwundert es nicht, wenn auch soziale Phänomene in der Tierwelt immer häufiger auf mögliche Anleihen für technische Prozesse studiert werden.
Wenn riesige Heringsschwärme wie ein einziger gigantischer Körper durchs Wasser gleiten und angreifende Robben irritieren oder Bisons sich bei der drohenden Attacke eines Raubtiers – die Hörner nach außen – sternförmig rings um die Jungtiere stellen, wird gern von Schwarmintelligenz gesprochen. Tatsächlich steckt derselbe Vorgang dahinter: Individuen werden durch ihr Verhalten zu einem Kollektiv, das Eigenschaften besitzt, die allen nützen, aber nicht von einem Einzelwesen erzeugt werden können. Lässt sich daraus etwas lernen?
Alle an einem Strang – ist das schon intelligent?
Gern werden auch Seti und Wikipedia als Beispiel für Schwarmintelligenz angeführt. Bei Seti („Search for Extraterrestrial Intelligence“) durchsuchen viele Tausende private Rechner im Verbund die von Radioteleskopen aufgezeichneten Signale aus der Tiefe des Universums nach Hinweisen auf außerirdische Intelligenz. Und bei Wikipedia kann jedermann Artikel zur weltgrößten Online-Enzyklopädie beisteuern oder vorhandene Beiträge korrigieren bzw. weiterschreiben.
Zwar zeugen Wikipedia-Texte von der Intelligenz ihrer Autoren. Doch weder bei Fischen und Bisons noch bei ET-Suchern oder klugen Schreibern entsteht aufgrund ihres Schwarmverhaltens tatsächlich „Intelligenz“ im engeren Sinn. Richtiger wäre, von Synchronisations-Vorteilen zu sprechen: Die Tiere reagieren instinktiv als Gruppe, und die kollektive Beteiligung an Wikipedia oder Seti erzeugt keine nur auf diese Weise erreichbare Qualität, sondern vorrangig einen Zeitgewinn.
Scheinbar bedeutungslose Daten – für das Kollektiv wichtig
Der Schlüssel zum Verständnis echter Schwarmintelligenz liegt in der Frage, ob koordiniertes Verhalten Daten hervorbringt, die dem Kollektiv nützen und so einen Mehrwert erzeugen. Das demonstrieren Ameisen tagtäglich: Sie schaffen es in kurzer Zeit, den optimalen Weg vom Nest zur Futterstelle zu finden. Jede Ameise sondert während der Futtersuche und bei der Rückkehr Pheromone ab. Wer auf einem kurzen Hin- und Rückweg also mehrere Duftmarken setzt, markiert den Weg intensiver, als es eine Ameise auf dem Weg zu einer fernen Quelle kann. Die Pheromone locken andere Ameisenkollegen auf diese Fährte, die den Weg ebenfalls markieren. Je schneller das Duftmarken-Cluster wächst, desto mehr Ameisen nehmen den kurzen Weg zum Futter. Ein sich selbst steuernder Prozess setzt ein; individuell erzeugte Informationen werden mit zunehmender Menge sinntragend und nützen dem Kollektiv. Eine einzelne Ameise könnte das nicht leisten.
Vorteile von „Platooning“
- Von 50 auf bis zu zehn Meter kann der Sicherheitsabstand innerhalb eines Lkw-Platoons schrumpfen. Der Platzbedarf eines Dreier-Konvois würde sich halbieren.
- 11 Prozent Verbrauchsvorteil kann das Windschattenfahren im Platoon bringen.
- Wegen des „Ziehharmonika“-Effekts beim Bremsen und Beschleunigen sehen Experten zehn Lkw in einem Platoon als Obergrenze.
- Sollten 50 Prozent der jährlichen Fahrleistung von 150.000 km eines Lkw im Konvoi gefahren werden, könnte jeder angekoppelte Lkw knapp 2.000 Liter Diesel pro Jahr einsparen.
- Circa 90 Prozent aller Lkw-Unfälle beruhen ganz oder teilweise auf menschlichem Versagen. Platooning könnte die Zahl deutlich reduzieren.
Einen ähnlichen Vorgang können wir am Steuer unserer Autos erleben: Stauhinweise basieren oft auf Positionsmeldungen von Handys. Jedes einzelne teilt mit, dass es sich derzeit nicht bewegt. Und wenn davon sehr viele hintereinander gleichzeitig signalisieren „Ich bewege mich nicht“, sind der exakte Ort und die Länge eines Staus schnell zu errechnen. Diese Daten zur Nicht-Mobilität nützen der Mobilität des Kollektivs – aus einer ausreichend großen Menge an Informationen entsteht ein neuer Zusammenhang. Keines der Telefone gibt mehr preis als seinen Standort und seine derzeitige Immobilität. Kombiniert entsteht ein Abbild der Verkehrssituation, auf das andere intelligent reagieren können. Diese Information als Mehrwert kann kein Individuum hervorbringen, aber jedes ist unverzichtbar am Zustandekommen beteiligt.
30 Beine und 42 Räder im Platoon
Bei Ameisen auf Wanderschaft kann man ein besonderes Verhalten beobachten – eines, von dem sich für unsere Mobilität viel lernen lässt. Zwei Dinge fallen auf: Ameisen sind stets in kleinen Gruppen zu fünf, sechs Individuen unterwegs, die einen Abstand zur vorauswandernden Gruppe halten, sie aber nie überholen. Das garantiert eine weitgehend unterbrechungsfreie Bewegung, auch wenn es vorne mal kurzzeitig stockt. Und: Wird es mal eng, nehmen die Tiere direkten Fühlerkontakt auf und können so auch auf engem Raum gleichmäßig vorankommen.
Wie sich das auf den Straßenverkehr übertragen ließe, hat Volvo bereits 2012 mit dem Projekt Sartre („Safe road trains for the environment“) getestet, indem mehrere untereinander abgestimmte Fahrzeuge im Konvoi fuhren. Und 2016 bewiesen alle europäischen Nutzfahrzeughersteller bei der Platooning Challenge, dass der Betrieb mittels elektronischer Datenübermittlung gekoppelter Lastzüge funktionieren kann. Entwickler intelligenter Fahrzeug-Steuerungssysteme wie etwa Highway Pilot Connect haben das Verhalten der Ameisen in Form des Platooning – die Fortbewegung in kleinen Zügen – auf den Straßenverkehr übertragen. Dabei reihen sich mehrere Fahrzeuge hinter einem Leitfahrzeug ein. Über WLAN fast wie mit einer elektronischen Deichsel miteinander verbunden, geben die Assistenzsysteme des ersten Fahrzeugs alle wichtigen Informationen an die Folgefahrzeuge weiter.
Weniger Platz, weniger Verbrauch
Das Fahren in solchen Konvois – testweise werden meistens drei Sattelzüge eingesetzt – bringt gleich mehrere Vorteile, wie Thomas Grimm, bei Schaeffler Leiter Produktmanagement Nutzfahrzeuge, ausführt: „Es senkt den Luftwiderstand der im Windschatten fahrenden Folgefahrzeuge, erhöht die Sicherheit und reduziert den benötigten Straßenraum.“ Tatsächlich kann Platooning die CO2-Emissionen und den Kraftstoffverbrauch um bis zu elf Prozent senken. Statt normalerweise ca. 150 Meter ist ein Konvoi nur noch etwa 80 Meter lang. Der Straßenraum wird besser ausgenutzt, die Bewegung erfolgt sehr gleichmäßig. Das Leitfahrzeug gibt ein Signal, wenn Eingriffe der Fahrer der Folgefahrzeuge nötig werden. Dabei erhöht sich die Sicherheit: Ein Fahrer hat 1,2 Sekunden Reaktionszeit, elektronische Systeme geben Hinweise in 0,1 Sekunden an die Assistenzsysteme der Folgefahrzeuge weiter. Aber selbst die besten Reaktionszeiten erfordern ein zuverlässig verzögerndes Bremssystem – gerade auch hinsichtlich der minimalen Abstände in einem Platoonverband. „Schaeffler liefert wichtige Komponenten für die Zuverlässigkeit von Bremsen“, so Grimm. „Auch die Achslasterkennung und die darauf beruhende Warnung bei Fehlbeladungen, die verlängerte Bremswege und kritische Bremsverhalten in Notsituationen zufolge haben können, sind Themen, mit denen wir uns bei Schaeffler beschäftigen.“
Schwarmintelligenz auf den Straßen
Platooning ist eine Form angewandter Schwarmintelligenz – der Nutzen sind reduzierter Kraftstoffverbrauch, verbesserter Verkehrsfluss und erhöhte Sicherheit. Für den Praxisbetrieb sind alle nötigen Technologien verfügbar und teilweise bereits in den Fahrzeugen vorhanden. „Denkbar ist“, erklärt Grimm, „dass sich smarte Lkw in naher Zukunft autonom koordinieren und streckenweise Platoons bilden, ohne dass eine übergeordnete Koordination nötig ist“. Der ökologische Nutzen, die verbesserte Straßennutzung und eine auf breiter Datenbasis optimierte Fahrstrategie sprechen für die Einführung solcher Systeme.
Dem breiteren Einsatz der Platooning-Systeme stehen allerdings vielerorts noch die Verkehrsvorschriften entgegen: Sie schreiben für Lastwagen häufig einen Mindestabstand vor, der deutlich über den 15-Meter-Lücken eines Platoons liegt. Angesichts der großen Vorteile dürfte die rechtliche Anpassung außer Frage stehen, und dann werden Lastwagen-Platoons auf unseren Autobahnen so selbstverständlich werden, wie es die kleinen Ameisentrupps auf dem Waldboden schon immer sind.
Schwarmintelligenz bei Schaeffler
In der Schwarmintelligenz liegt aus Sicht von Schaeffler ein Schlüssel für Zukunftskonzepte im Straßenverkehr“, sagt Thomas Grimm, Leiter Produktmanagement Nutzfahrzeuge. „Auf unseren Straßen sind ständig Hunderttausende datenproduzierender Nutzfahrzeuge unterwegs. Wir als Komponentenhersteller, aber auch Speditionen und Fahrzeughersteller sehen eine Aufgabe darin, diese Daten zu sammeln und auszuwerten, um größtmöglichen Nutzen für die Umwelt, die Verkehrsteilnehmer und die Fahrzeugbetreiber zu erzielen.“
Grimm erläutert es an vier Beispielen:
Sicherheit: Kritische Fahrbahnzustände oder Witterungsbedingungen (Eis, Aquaplaning, Starkregen, Nebel) können sensorisch erkannt und über eine Datencloud an den nachfolgenden Verkehr weitergegeben werden. Gleiches gilt für Änderungen im Verkehrsfluss (Staubildung, Stauende). Grimm: „Wer schon mal ein Verkehrstraining im Lkw gemacht und erfahren hat, wie lang Bremswege werden können und wie hilflos man als Fahrer in einer solchen Situation ist, der weiß auch um die Wichtigkeit dieses Themas.“
Fahrstrategie und Schaltverhalten: Wenn Fahrzeuge intelligent Daten sammeln und ihre Fahrstrategien aufeinander abstimmen, lassen sich Umweltbelastungen verringern. „Jeder zusätzliche Schaltvorgang unter Volllast an harten Steigungen kostet etwa einen Liter Kraftstoff“, erklärt Grimm. „Und jede unnötige Bremsung kostet ebenfalls unnötig Energie. Je vorausschauender und gleichmäßiger sich ein Fahrzeug bewegt, desto effizienter und umweltschonender ist es.“
Wartungsintervalle: „Sensordaten und Fahrwerte können von Fahrzeugen gesammelt und allen Nutzern zur Verfügung gestellt werden.“, erläutert Grimm. „Die Sicherheitsfenster von Verschleißteilen ließen sich optimieren und an das jeweilige Fahrzeug anpassen. Bauteile würden nicht mehr nach Zeit- oder Kilometerintervallen ausgetauscht werden, sondern erst am Ende ihrer tatsächlichen Nutzbarkeit. Das kann Betreibern großer Flotten erhebliche Kosteneinsparungen bringen und die Sicherheit erhöhen.
Straßeninstandhaltung: Über Sensoren der Fahrzeuge, z. B. in Wälzlagern, können Schäden in Straßen erkannt und in einem frühen Stadium repariert werden. Das kann helfen, große, teure und langwierige Komplettsanierungen zu vermeiden.
Fazit: Fahrzeuge werden immer intelligenter, neue Märkte entwickeln sich. „Schaeffler bringt dort seine langjährige Erfahrung als Zulieferer ein und kombiniert diese mit neuen Technologien der Digitalisierung“, so Grimm. „Darin stecken ebenso Geschäftsmodelle der Zukunft wie in dem Sammeln und Aufarbeiten von Daten und dem Bereitstellen für Partner.“