Das digitale Hoch im Norden
Harald I., genannt Blauzahn, war ein Raufbold. Er regierte im 10. Jahrhundert in Dänemark und Norwegen und fiel, wie so viele seiner Wikingervorfahren, gern in andere Länder ein. Besonders häufig in die Normandie. Aber er initiierte auf der anderen Seite auch die Christianisierung Skandinaviens und machte sich um die Vereinigung der Nordländer verdient, die heute als Dänemark, Norwegen und Schweden bekannt sind. Er hat Grenzen überwunden, neue Verbindungen erschaffen – und genau deswegen benannten die Erfinder der Funktechnik Bluetooth den heute weltweit eingesetzten Standard nach dem alten König. Seine Initialen H und B in Runenschrift sind auf dem Bluetooth-Logo verewigt. Bluetooth wurde für den schwedischen Telekommunikationsriesen Ericsson entwickelt. Der finnische Nachbar und Mitbewerber Nokia steuerte ebenfalls Know-how bei. Ein IKT-Meilenstein made in Scandinavia – einer von vielen.
Nicht nur auf Europa bezogen sind Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland seit Jahren digitale Hotspots. Gleiches gilt im globalen Ranking. Das Weltwirtschaftsforum hat in einer Studie Finnland, Schweden und Norwegen hinter Singapur auf die Plätze zwei, drei und vier der Staaten gesetzt, die am besten für die digitalen Herausforderungen der Zukunft gerüstet sind. Die EU-Kommission machte Dänemark als „digitalen Anführer“ aus – direkt gefolgt von Norwegen und Schweden.
Früh bis in den letzten Winkel verkabelt
Was macht die Nordländer so stark in Sachen Bits und Bytes? Wie wirkt sich die digitale Kompetenz im beruflichen und privaten Alltag aus? Tabellenführer wird man nicht über Nacht, nicht im Sport und auch nicht in der Welt der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT). Dass die nordischen Länder heute so gut positioniert sind, hat viele Gründe. Ein ganz wesentlicher: ein engmaschiges Telefon- und Breitbandkabelnetz. Viel früher als die meisten anderen Länder der Welt haben die Skandinavier begonnen, ihre Länder bis in den entlegensten Winkel zu vernetzen – und davon gibt es einige im eher dünn besiedelten Nordeuropa. In Dänemark können sich heute laut dem Digital Economy und Society Index 2016 (DESI) 92 Prozent aller Bewohner an eine Highspeed-Leitung mit mindestens 30 Mbps andocken. Auch Norwegen (80 Prozent) und Schweden (76 Prozent) liegen diesbezüglich über dem europäischen Durchschnitt (71 Prozent). Schweden glänzt darüber hinaus mit einer LTE4-Abdeckung von 99 Prozent. Trotz extrem niedriger Kabelgebühren fahren die Finnen eher auf Mobiltelefonie ab. Auf 100 Einwohner kommen in der Heimat des ehemaligen Handy-Weltmarktführers Nokia 139 Mobilfunkverträge, das sind fast doppelte so viele wie im europäischen Durchschnitt. Festnetzanschlüsse sind, gerade in Finnland, wenn überhaupt nur noch in Büros zu finden.
Das Nokia-Comeback nimmt Fahrt auf. Das hebt die Stimmung in ganz Finnland
Olli Rehn, Finnlands Wirtschaftsminister
Apropos Nokia: Die von vielen tot geglaubten Finnen haben sich zwar aus dem Smartphonegeschäft zurückgezogen, sind aber durch den Zukauf eines Wettbewerbers zum weltgrößten Anbieter von Netzwerktechnologien aufgestiegen und haben dabei den schwedischen Konkurrenten Ericsson auf Platz zwei verwiesen. Nokia und Ericsson mit ihren über 100.000 Mitarbeitern haben durch die starke Präsenz in ihren Heimatländern viel zur großen Affinität der Bevölkerung zu Technik und Innovationen beigetragen. US-Web-Pionier Ajaz Ahmed hält den digitalen Pioniergeist am Polarkreis für durchaus „vergleichbar mit dem im Silicon Valley“. Ähnlich neugierig, wie ihre entdeckungsfreudigen Vorfahren, die Wikinger, unbekannten Ufern entgegensegelten, stürzen sich junge Nordmänner auf neue Technologien.
Das Ende als Nährboden für Neues
Dass Nokia das Smartphonegeschäft aufgegeben hat, war natürlich ein Schlag für die finnische Volksseele. Aber: Viele dadurch ihrer Arbeit beraubte Mitarbeiter wagten den Sprung in die Selbstständigkeit und gründeten Start-ups. Auch diese tragen dazu bei, dass in Finnland laut dem DESI heute 6,7 Prozent aller Arbeitsplätze im IKT-Sektor beheimatet sind. Da kann europaweit nur – wen wundert’s – Schweden (6 Prozent) mithalten. Der europäische Durchschnitt liegt bei 3,7 Prozent. Ex-Nokianer haben mittlerweile die Namensrechte ihrer alten Firma für mobile Endgeräte von Microsoft zurückgekauft und wollen demnächst Smartphones und Tablets mit dem Nokia-Logo verkaufen. „Das Nokia-Comeback nimmt Fahrt auf. Das hebt die Stimmung in ganz Finnland“, bewertete Wirtschaftsminister Olli Rehn diese Entwicklung via Twitter. Das „alte“ Nokia hat hingegen neue, zusätzliche Betätigungsfelder gefunden: zum Beispiel digitale Medizinanwendungen und Kameras für virtuelle Welten.
Finnland ist Nokia, und Nokia ist Finnland – könnte man meinen. Besonders präsent sind finnische IKT-ler aber auch im Spielemarkt. Die 2003 im Hauptstadtvorort Espoo gegründete Firma Rovio hat mit „Angry Bird“ einen Welthit gelandet, der sogar als Kinoverfilmung ein Chartstürmer war. Zwar hat das globale Vogel-Fieber merklich nachgelassen und ein Folgehit ist noch nicht lanciert, aber der Traum, ein Disney des 21. Jahrhunderts zu werden, existiert weiterhin. Ein weiteres Schwergewicht der Szene ist der 2010 gegründete Spieleentwickler Supercell („Clash of Clans“) aus Helsinki, er hat bereits einen Marktwert von mehreren Milliarden Euro.
Helsinki ist auch alljährlich Gastgeber des Slush – eine Art Woodstock der Start-up-Szene. „Die Veranstaltung ist das aktuelle Universum der Tech-Szene“, attestiert Niklas Zennström, Mitbegründer von Skype und Atomico. Dort treffen sich nicht nur 2.000 Start-ups, sondern auch 800 Venture-Capital-Firmen, die mit ihrem Geld Innovationen in die nächste Umlaufbahn schießen können.
Dass die nordischen Länder eine solch aktive und innovative Start-up-Szene hervorgebracht haben, liegt nicht nur an der Begeisterung für alles Digitale, sondern auch an dem eng gestrickten sozialen Netz, das Wagemutige auffängt, falls sie einmal stolpern. Auch typisch im Norden Europas: eine von Mitbestimmung und flachen Hierarchien geprägte Gesellschaft. „Die Arbeitsprozesse nordischer Firmen haben etwas von Saunagängen“, verglich Jean-Jerome Schmidt, Marketingchef beim IKT-Dienstleister Severalnines, in einem Report auf techradar.com. „Egal ob Geschäftsführer oder Rezeptionist – wenn man gemeinsam in der Sauna sitzt, fallen alle Barrieren und alle sind gleich.“ Pär Hedberg, Geschäftsführer beim schwedischen Hardwareanbieter THINGS, ergänzt: „Die Ideen jedes Kollegen werden mit dem gleichen Respekt angehört wie die des Chefs. Eine solche Kultur ist ein guter Nährboden für Innovationen.“ Nicht zuletzt deswegen hat Schweden nicht nur H & M, Ikea und Volvo hervorgebracht, sondern auch digitale Welterfolge wie Skype, Spotify, MySQL oder auch „Minecraft“.
Open mind, open data
Aber auch firmenübergreifend schätzt man den kreativen Umgang miteinander. Paradebeispiel für die Offenheit nordischer IKT-ler ist das Betriebssystem Linux des Finnen Linus Torvalds. Während Microsoft und Apple den Quellcode ihrer Betriebssysteme hüten wie einen Goldschatz, verbessert bei Linux eine weltweite Entwickler- und Nutzergemeinde die Funktionalitäten und Einsatzmöglichkeiten.
Solche Offenheit ist bei Weitem kein Einzelfall im digitalen Norden. Neil Sholay, Europachef von Oracle #Digital, berichtet: „Ich habe in Schweden beobachtet, wie eng Start-ups zusammenarbeiten, dort ist eine sehr innovative Gemeinschaft entstanden.“ Hautnah zu erleben ist dies in der Kista Science City im Norden Stockholms. Im größten IKT-Komplex Europas haben sich über 1.000 Firmen der Branche niedergelassen, darunter auch Big Player wie Microsoft, IBM und natürlich Ericsson. Drahtlose Kommunikationsstandards wie NMT, GSM, EDGE und W-CDMA wurden hier entwickelt.
Der leichte Zugang zu offenen Daten ermöglicht neue Dienstleistungen, fördert Unternehmungsgründungen und Wirtschaftswachstum, außerdem eine offenere und demokratischere Gesellschaft. Er ist also ein Gewinn für uns alle
Jan Tore Sanner,
Norwegens Minister für Kommunale Verwaltung und Modernisierung
Auch beim Umgang mit Daten schätzt man eine gewisse Offenheit. In Finnland beispielsweise reicht eine SMS, um den Halter eines Kfz zu ermitteln. Auch Einkommen einzelner Personen sind mit wenigen Mausklicks öffentlich einsehbar. Als das Google-Car durch Kopenhagen, Göteborg oder Helsinki fuhr, um seine Streetview-Aufnahmen zu machen, wurde es nicht von einem vielstimmigen Aufschrei wie etwa in Deutschland begleitet. Ist so eine datentechnische Freikörperkultur gut oder schlecht? Darüber kann man trefflich streiten. Für Jan Tore Sanner, Norwegens Minister für Kommunale Verwaltung und Modernisierung, steht fest: „Der leichte Zugang zu offenen Daten ermöglicht neue Dienstleistungen, fördert Unternehmungsgründungen und Wirtschaftswachstum, außerdem eine offenere und demokratischere Gesellschaft. Er ist also ein Gewinn für uns alle.“ Wobei man auch in Norwegen grundsätzlich der Meinung ist, dass jede Person Herr über ihre persönlichen Daten sein sollte.
In der dänischen Hauptstadt Kopenhagen wächst in Zusammenarbeit mit dem japanischen Elektrokonzern Hitachi die Datenbankplattform „City Data Exchange“ heran, die bei Erfolg auch in anderen Metropolen eingesetzt werden könnte. Dort sollen sich alle Gesellschaftsgruppen wiederfinden und sich aus dem Datenbestand bedienen können – Behörden ebenso wie Bürger und Unternehmen. Ob Statistiken über Energieverbrauch oder Kriminalität, ob Umweltdaten oder aktueller Wetterbericht, ob Umfragen oder Echtzeitmessungen: Die Datenwolke über Kopenhagen nimmt alles auf. Zielgruppenspezifische Applikationen – idealerweise entwickelt von lokalen Start-ups – helfen bei der Auswertung.
Wie Norwegens Minister Sanner ist sich auch Kopenhagens Bürgermeister Frank Jensen sicher, dass ein guter Zugang zu Daten viele positive Impulse aussendet. „Diese können unter anderem zu ganz neuen technologischen Lösungen führen, die zum Beispiel beim Einsparen von Energie oder der Verbesserung der Mobilität helfen können. All das fördert das Wirtschaftswachstum und schafft neue Arbeitsplätze.“
Investitionen in Forschung und Bildung
Ein weiterer wichtiger Faktor beim Ausbau des erarbeiteten digitalen Vorsprungs der Nordländer sind entsprechende Investitionen in Forschung und Bildung. Aktuell gibt es einen IKT-Fachkräftemangel im Norden Europas. Das liegt auch daran, dass nach dem Platzen der Internetblase zum Anfang des Jahrtausends viele Studienbeginner auf ein anderes Pferd gesetzt haben. Damit solche bremsenden Personalengpässe in Zukunft vermieden werden, soll der Nachwuchs früh und breitflächig an die digitalen Welten herangeführt werden. Auch aus diesem Grund haben sich Bildungsbehörden in Skandinavien jüngst im Schulterschluss mit dem New Media Consortium (NMC) verlinkt, einer globalen Gemeinschaft führender Universitäten, Hochschulen, Museen und Forschungszentren. Das Ziel: Schulleiter und andere Entscheider im Bildungswesen über neueste technologische Entwicklungen zu informieren und diese im nächsten Schritt in den Lehrbetrieb zu integrieren. In den kommenden fünf Jahren sollen so unter anderem Cloud-Anwendungen, das Internet der Dinge, computerbasierte Simultanübersetzung sowie körpernahe Technologien (sogenannte Wearables wie Google-Brille, Smartwatches, Körpersensorik) und auch Computerspiele Bestandteile des Unterrichts werden. Schon jetzt sind die skandinavischen Länder Vorreiter in onlinebasierten Lernhilfen und Tests. Auffällig: die enge Vernetzung von Universitäten und IKT-Firmen im Norden Europas. Oft siedeln sich diese Unternehmen in Campusnähe an oder entsenden Mitarbeiter als Lehrkräfte an die Unis. Allein die Kista Science City hat Lehrplätze für 6.800 Studenten an der Universität und der Technischen Hochschule in Stockholm eingerichtet.
Ein spannendes Projekt betreut die Non-Profit-Organisation „Ung Företagsamhet“ („Junges Unternehmertum“) in Schweden: Oberschüler zwischen 16 und 20 Jahren können begleitend zum Unterricht eine eigene Firma gründen. Die vermeldeten Erfolge können sich sehen lassen. Die Teilnehmer sollen selbstbewusster, entscheidungsfreudiger und teamfähiger sein. Außerdem könnten sie Probleme besser lösen.
Die Technologiefreundlichkeit der Nordländer spiegelt sich auch im Alltag wieder: Ob einkaufen, Bankgeschäfte, Kommunikation mit Behörden und Ärzten, Mobilitätsanwendungen – in kaum einer anderen Region auf der Welt wird der Alltag in so hohem Maße online bewältigt. Schweden, das Land, das vor rund 350 Jahren als erstes in Europa Papiergeld eingeführt hat, ist drauf und dran, erneut eine monetäre Vorreiterrolle einzunehmen: durch die komplette Abschaffung des Bargelds. Seit 2008 hat sich der Bargeldumlauf im Königreich halbiert. Bares in die Hände zu bekommen ist mittlerweile eine Herausforderung: Mehr als die Hälfte der Bankfilialen zahlt keine Münzen oder Scheine mehr aus, und diese wieder loszuwerden ist ebenfalls nicht einfach. Denn nicht nur die Stockholmer U-Bahn pocht beim Bezahlen auf elektronisches Geld, selbst auf Flohmärkten wird im Norden Europas immer öfter bargeldlos bezahlt – MobilePay sei Dank. Das von der dänischen Danske Bank initiierte System ermöglich Überweisungen sogar von Handy zu Handy. So ändern sich die Zeiten: Nicht mehr Bares ist Wahres, sondern nur noch Digitales.