Der feine Unterschied
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Dezember 2017

Der feine Unterschied

Interessieren sich Männer für Maschinen und Frauen nicht? Bevor ein Sturm der Entrüstung losbricht, sollte man sich ein paar Zahlen ansehen und welche Veränderungen gerade stattfinden. Und ganz wichtig: Ruhe bewahren!

Mehr als 5.600 neurowissenschaftliche Studien aus dem Themenbereich Geschlechterdifferenzforschung wurden seit Anfang der 90er-Jahre veröffentlicht – wie eine Arbeitsgruppe der University of Cambridge einmal errechnete. Eine gewaltige Zahl. Und ein Beleg dafür, dass der Gender-Diskurs in vollem Gange ist. Ein glutheißes Eisen sozusagen. Und das seit Jahrzehnten. Aktueller Beweis gefällig? In den USA ist jüngst ein Mitarbeiter entlassen worden, der in einem Memo festhielt, es gebe genetische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die sich in unterschiedlichen Neigungen äußerten. Die Entlassung sorgte vielerorts für Erstaunen. Zumal man doch zum Beispiel beim US-Psychologen und Bestsellerautor Gregory L. Jantz nachlesen kann, dass sich das männliche und weibliche Gehirn an rund 100 Stellen voneinander unterscheiden. Ticken Frauen und Männer also schon allein deswegen unterschiedlich? Nicht unbedingt. Zahlreiche Studien unterstreichen: Es kommt nicht nur auf die Hardware an (Gehirn), sondern natürlich auch auf die Programmierung (durch das soziale Umfeld).

Die geschlechtsneutrale Früherziehung ist dabei ein wichtiges Thema. Lässt sich der Onlineshop des Spiel­zeug­rie­sen Toys’R’us deshalb nach allen möglichen Suchkriterien durchforsten, aber nicht geschlechterspezifisch? Aber warum gibt es dann auf der anderen Seite spezielle Überraschungseier für Mädchen? Wo man auch hinschaut: Die Gender-Diskussion ist ein Kampf an vielen Fronten. Nicht wenige halten das Kinderzimmer gar für die vorderste Linie. Spielzeug-Bagger auf der einen, Glitzer-Barbie auf der anderen Seite.

Ein Mann und eine Frau stehen vor einem Automaten

Dass es Unterschiede zwischen Männlein und Weiblein beim Umgang mit Technik gibt, belegt auch eine Untersuchung der deutschen Wissenschaftlerin Uta Brandes. Die Professorin für Gender und Design in Köln erforschte das Verhalten an Fahrkartenautomaten und fand heraus, dass Männer an Automaten weniger Angst vor Misserfolgen haben und die Methode „Trial and Error“ bevorzugen, Frauen hingegen länger überlegen, bevor sie einen Knopf drücken. Allein, was beweisen diese und andere Untersuchungen, wie wurden sie durchgeführt, handelt es sich um Tendenzen, und was ist aus den Ergebnissen zu schließen? Und auch hier wieder: Ist das jeweilige Verhalten eine Folge von geschlechterstereotypen Sozialisationserfahrungen oder biologisch bedingt? Man erahnt es: Studien werfen oft mehr Fragen auf, als dass sie Antworten liefern. Interessant dabei: Den Forschern scheint eher daran gelegen zu sein, Unterschiede zwischen Mann und Frau zu manifestieren. Ähnlichkeiten nachzuweisen lockt wenige hinter dem Ofen hervor. Zu dieser Minderheit zählt die Neurowissenschaftlerin Dr. Lise Eliot. Von der populärwissenschaftlichen Aussage „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ – so der Titel eines Gender-Bestsellers aus den 1990er-Jahren – hält Eliot nicht viel. Wenn überhaupt, nivelliert sie, „seien Männer aus North Dakota und Frauen aus South Dakota“. Demnach könnten Frauen sehr wohl ein ausgeprägtes technisches Interesse entwickeln – wenn frühzeitig eine entsprechende soziale Prägung erfolgt. Also, Mädchen, ran an den Spielzeug-Bagger, wenn du Ingenieurin werden willst.

  • 88 %

    aller zwischen 1980 und 2010 aus der IT-Branche angemeldeten Patente beruhen auf Entwicklungen rein männlicher Teams. Rein weibliche Teams haben 2 % der Patente eingereicht.
    Quelle: National Center for Women & Information Technology 2016
  • 14 %

    aller Führungskräfte im Silicon Valley sind weiblich.
    Quelle: Studie Fenwick & West 2016
Benutzeraffinität oder doch echtes Technikinteresse?

Wenn wir uns als Nächstes mit dem Interesse für Technisches beschäftigen, muss man erst fragen, was genau darunter zu verstehen ist. Fängt ernsthaftes Interesse damit an, dass man einen Toaster in seine Bestandteile zerlegt, oder reicht es, ihn mit Begeisterung zu benutzen? Und überhaupt, was ist eigentlich mit Technik gemeint, oder sagen wir, mit Maschinen? Laut Wikipedia ist die Maschine „eine mechanische Vorrichtung, die Kraft oder Energie überträgt und so bestimmte Arbeiten für den Menschen erleichtert“. Ganz weit in den feministischen Bereich würde man tappen, wenn man behauptete, dass die Maschine in ihren Anfängen die Körperkraft des Mannes überflüssig machte und der Mann sich eine neue wirksame männliche Identität erschuf. Eine, die Schöpfermythos, unermüdliche Potenz und Tüftler-Ehre in sich vereint. Oder wie der Autor Georg Seeßlen einmal so schön schrieb: „Der Mann verschmilzt mit seiner Maschine zu einem neuen, potenten Wesen, die Frau dagegen wird durch ihre Maschine befreit.“ Maschinen, die Frauen befreien? Da fällt einem doch gleich die schwer chauvinistische Werbung eines deutschen Hausgeräteherstellers ein, der immerhin 50 Jahre damit warb, zu wissen, was Frauen wünschen. Nämlich Kühlschrank, Waschmaschine und Trockner.

In der Tat werden diese technischen Geräte mehrheitlich von Frauen bedient. In Deutschland beispielsweise noch heute doppelt so häufig wie von Männern. Aber aufgemerkt: Selbst die linksliberale deutsche Tageszeitung „taz“ sang 2016 ein emanzipatorisches Loblied auf die Weiße Ware: „Wenn man so will, erweiterte das automatische Schleudern den 68er-Slogan der Frauenbewegung ‚Das Private ist politisch‘ um einen technischen Aspekt. Staubsauger, Bügeleisen und Waschmaschine scheinen nicht Symbole der Unterdrückung zu sein, sondern der Befreiung.“ In dem gleichen Artikel wird eine Umfrage des deutschen TNS-Emnid-Instituts zitiert, in der 44 Prozent der Befragten in der Waschmaschine eine der wichtigsten Erfindungen überhaupt sehen. Der südkoreanische Wirtschaftswissenschaftler Chang Ha-joon adelt das Reinigungsgerät sogar als „revolutionärer als das Internet“. Wenn man also die empirisch gestützte Brücke von Waschmaschine über Technik zu Frauen schlägt, kann man zu dem Schluss kommen, dass das weibliche Geschlecht durchaus problemlos mit wegweisenden Maschinen umgehen kann – vielleicht machen Frauen einfach nur weniger Bohei darum, wenn sie eine Gerätschaft erfolgreich zum Arbeiten gebracht haben.

Andere Länder, andere Frauenquoten

Nichtsdestotrotz: Sieht man sich die Anzahl der Frauen in den MINT-Berufen an, also Tätigkeitsfeldern innerhalb der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, könnte man darauf kommen, dass die Neigung dazu in der Damenwelt von Natur aus nicht sehr ausgeprägt ist: In Deutschland stehen 70 Prozent Männer etwa 30 Prozent Frauen gegenüber. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Polen und Spanien. Dort sind ein Drittel aller angehenden Ingenieure weiblich. Nach einem Report von McKinsey sind hingegen in Italien und Kanada – zumindest in einigen naturwissenschaftlichen Fächern – über die Hälfte der Studierenden Frauen. Auch Indien und Australien vermelden eine 50-Prozent-Quote unter den Abschlussjahrgängen einiger technischer und naturwissenschaftlicher Studiengänge. Also globale Entwarnung an der Gender-Front? Nicht ganz: In Japan beispielsweise ist nicht einmal jeder fünfte Absolvent im MINT-Bereich weiblich. Dort ist also noch Luft nach oben. Die unterschiedlichen Zahlen offenbaren: Technisches Interesse hat doch etwas mit soziokultureller Prägung zu tun.

Corinna Schittenhelm, Personalvorständin bei Schaeffler, hat hausinterne Vergleichszahlen aus den Regionen Greater China und Europa, die diese These untermauern: „In Greater China haben wir mit 25 Prozent vor allem auf Leiterebene einen sehr hohen Anteil von Frauen im Vergleich zu Europa mit nur 8 Prozent. Auch auf Spezialistenebene ist Greater China mit einem Anteil von 33 Prozent deutlich vor den anderen Regionen.“ Global liegt dieser Wert bei Schaeffler bei 21 Prozent. Aber ein Wandel deutet sich auch bei Schaeffler an: Wenn man sich die Trainee-Stellen anschaut, liegt der Frauenanteil bei 30 Prozent. Personalchefin Schittenhelm hofft, dass möglichst viele von den weiblichen Jobneulingen die Karriereleiter hinaufklettern werden. Ihr Ziel diesbezüglich ist klar formuliert: „Schaeffler will den Anteil der Frauen in Führungspositionen erhöhen.“

Eine Zahl aus den USA macht dabei deutlich, dass Frauen in Führungspositionen eine Sogwirkung auf das gleiche Geschlecht haben. Eine aktuelle Erhebung des FundersClub hat ergeben, dass US-Technologie-Start-ups, die von Frauen gegründet wurden, durchschnittlich doppelt so viele weibliche Mitarbeiter haben wie Vergleichsunternehmen mit rein männlichen Entrepreneurs.

Eines muss bei solchen Zahlenspielen jedoch stets im Hinterkopf behalten werden: Ein Gleichgewicht oder – warum eigentlich nicht – einen Frauenüberhang in technischen Berufen wird es im globalen Arbeitsmarkt nicht von heute auf morgen geben. Selbst wenn 90 Prozent aller neu eingestellten Ingenieure weiblich wären, würde es wegen des aktuellen deutlichen Männerüberhangs ein paar Jahre dauern, bis ein Gleichgewicht entstünde. Und nur des Proporzes wegen etablierte männliche Mitarbeiter zu entlassen würde den Gleichberechtigungs­gedanken ad absurdum führen.

Elektronische Gadgets als geschlechtsneutrale Statussymbol

Förderlicher erscheint, zu betrachten, inwieweit sich das Maschinelle in Zeiten der Digitalisierung in Richtung Elektronik bewegt. Und was das in Bezug auf die Genderproblematik in technischen Berufen bedeutet. In der Tat hat sich durch die Erfindung des iPhones einiges in Sachen Zuschreibung getan. Die Technik steht nicht mehr allein für Geschicklichkeit oder Kraft, sondern vielmehr für geistige Potenz und kommunikative Stärke – also Eigenschaften, die sich sowohl Männlein als auch Weiblein gern an die Brust heften. Und das Smartphone – ebenfalls ganz geschlechtsneutral – hat sich an vorderster Gadget-Front zum Statussymbol entwickelt und so neue technische Affinitäten erschaffen. Gut möglich also, dass das Smartphone als Unisex-Vorzeige-Technik-Equipment auch in der Gender-Auseinandersetzung eine disruptive Wirkung ausübt.

Vier Vorreiterinnen
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Laut einer Microsoft-Studie ist das Interesse von Mädchen an Technik im Alter von elf bis 16 Jahren am stärksten ausgeprägt und sinkt dann rapide ab. Ein Grund dafür: der Mangel an weiblichen Vorbildern. Dabei gibt es sie überall auf der Welt.

Die Autodidaktin
Aya Jaff gilt als Deutschlands Digital­revolutionärin. Die 21-Jährige wurde im Irak geboren, brachte sich selbst das Programmieren bei und entwickelte das Online-Börsenspiel „Tradity“ mit. Heute studiert sie in Nürnberg Wirtschaftswissenschaften und Sinologie, schreibt an einem Buch über Börsengrundlagen und sagt Sätze wie: „Ich liebe Programmiersprachen!“ 2016 war sie als einzige Deutsche Stipendiatin an der amerikanischen Draper University im Silicon Valley, stellte dort der Jury ein Konzept für ein deutsches Hyperloop-System vor und bekam von Dirk Ahlborn, Gründer des Unternehmens Hyperloop Transportation Technologies, das Angebot, frei für ihn zu arbeiten. Sie beschloss, zuerst ihr Studium zu beenden – man darf gespannt sein, was danach folgt.

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Die Kämpferin
Sheryl Sandberg ist vielleicht die wichtigste Symbolfigur des weiblichen Erfolgs im Silicon Valley. Fünf Jahre war sie Stabschefin im Finanzministerium unter Bill Clinton, 2001 wurde sie Vizechefin des globalen Online-Verkaufs von Google, seit 2008 ist sie Geschäftsführerin von Facebook. 2013 schrieb sie den Bestseller „Lean In – Frauen und der Wille zum Erfolg“. Für viele Frauen galt das Buch als Karrierebibel. Seit dem unerwarteten Tod ihres Mannes vor zwei Jahren kümmert sich Sandberg allein um die beiden Kinder, ihr Buch „Option B“ erschien 2017. Darin schreibt sie, dass sie den Feminismus neu überdenken musste und der Kampf für Chancengleichheit alleinerziehende Frauen viel stärker in den Fokus nehmen müsse.

Die Lehrerin
Die Finnin Linda Liukas kämpft dafür, dass sich Frauen mehr für Rechner interessieren, und gründete „Rails Girls“. Die Initiative ermöglicht es Frauen, Programmieren zu lernen, inzwischen finden auf der ganzen Welt von Krakau bis Neuseeland kostenlose Computerkurse für Frauen und Mädchen statt. Sie sagt: „Programmier-Code ist die Sprache des 21. Jahrhunderts.“ Zudem schrieb die 31-Jährige das Kinderbuch „Hello Ruby – Programmier dir deine Welt“. Für das Projekt sammelte sie 380.000 Dollar, die höchste Crowdfunding-Summe, die je für ein Kinderbuch erreicht wurde – und die Illustrationen in dem Buch stammen ebenfalls von Liukas.

helloruby.com
railsgirls.com

Die Fabrik-Arbeiterin
Die Chinesin Zhou Qunfei ist die jüngste Selfmade-Multimilliardärin der Welt. Die 47-Jährige stammt aus armen Verhältnissen, ging mit 16 von der Schule ab und arbeitete am Fließband eines Herstellers für Uhrengläser. Mit 22 gründete sie ihre erste Firma. Heute stellt ihr Konzern Lens Technology Handydisplays her und beliefert Firmen wie Apple und Samsung. Das Unternehmen beschäftigt 90.000 Mitarbeiter, ihr Vermögen wird auf elf Milliarden Dollar beziffert, und Zhou Qunfei ist dafür bekannt, dass sie ihre Geschäftsführer auch mal in Meetings zum Geradesitzen ermahnt. Es heißt, dass es in keinem Land mehr Self­made-Milliardärinnen gebe als in China, Grund dafür sei die Förderung von Chancengleichheit durch die Kommunistische Partei unter Mao Tse-tung.

Wiebke Brauer
Autorin Wiebke Brauer
Die Hamburger Autorin Wiebke Brauer nahm schon als Kind ihre Spielzeugautos auseinander und ist bis heute von Maschinen fasziniert. An Fahrkarten-Automaten verzweifelt sie trotzdem.