Der Tüchtige
Es ist Sonntag, der 20. Juni 1948. Am Freitag zuvor wurde über die Rundfunkanstalten verkündet, dass nun die Währungsreform in Kraft tritt. Mit der Deutschen Mark wird sich alles ändern, die Tauschgeschäfte haben ein Ende, die deutsche Wirtschaft soll wieder aufgebaut werden. Aus dem Nichts. Auch Georg Schaeffler muss ganz von vorn beginnen. Er ruft seine Mitarbeiter zusammen, 70 Leute sind es gut und gern. „Männer, ich habe genauso viel wie ihr“, sagt Schaeffler zu ihnen. „Ich bekomme 40 D-Mark. Was tun wir? Ich stehe wieder am Anfang wie ihr. Ich erwarte eure Entscheidung.“ Seine Belegschaft berät sich und verkündet ihrem Chef: „Wir arbeiten weiter. Wenn Sie wieder mal Geld haben, dann bezahlen Sie uns eben. Alles andere wird sich geben.“
Vielleicht ist dies der Tag, an dem ein besonderer Geist die Firma beseelt. Ein Geist, der von Risikobereitschaft geprägt ist – und von großem Vertrauen zu dem Mann, der vor ihnen steht. Das Vertrauen lohnt sich: Einen Tag später, am 21. Juni 1948, wird eine neue Firma gegründet, die Industriewerk Schaeffler oHG. Und die Erfolgsgeschichte beginnt, angetrieben von einem unermüdlichen Glauben an den Wandel und an das Neue.
Immer neue Aufgaben
Schaefflers Leben ist nicht nur von außerordentlicher Tatkraft geprägt, es spiegelt auch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wider: Georg Schaeffler wird am 4. Januar 1917 in Lothringen geboren. Seine Familie bewirtschaftet dort einen landwirtschaftlichen Betrieb, nach dem Ersten Weltkrieg siedelt die Familie in das Saarland über. 1938 beginnt Georg Schaeffler mit dem Studium der Betriebswirtschaft in Köln, nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird er im Januar 1940 zum Wehrdienst eingezogen. Während eines Lazarett-Aufenthaltes im Jahr 1944 schließt er sein Studium zum Diplom-Kaufmann ab. Sein Vorhaben, daran ein Ingenieur-Studium anzuhängen, scheitert an den Wirren des Krieges.
Schon 1939 erwirbt die Familie ein Unternehmen für Textilien, das während des Krieges auch Nadellager herstellt und dessen Sitz mehrere Male wechselt. Auf der Suche nach einem Grundstück mit Gleisanschluss für ihr Unternehmen kommen die Brüder Wilhelm und Georg Schaeffler 1946 nach Herzogenaurach. Gefertigt werden Holzartikel wie Leitern oder Knöpfe, bald kommen Metallprodukte wie Gelenkkreuzbüchsen und Nadellager hinzu. Aus dieser Zeit stammt auch die Markenabkürzung INA für „Industrie-Nadellager“. Später fragen Mitarbeiter, wofür die Abkürzung stehe. Die Antwort von Georg Schaeffler lautet: „Immer neue Aufgaben“.
Geistesblitz hinterm Autolenkrad
Dinge zu perfektionieren, das liegt Schaeffler am Herzen. 1949 denkt er bereits seit Längerem über eine Verbesserung des herkömmlichen Nadellagers nach. Während einer Autofahrt hat er die entscheidende Idee: Die Nadeln müssen achsparallel einzeln in einem Käfig geführt werden. Schaeffler selbst erzählt später: „Den ersten Nadelkäfig stellten wir an einem Tag her, an dem abends das Betriebsfaschingsfest stattfand. An jenem Nachmittag habe ich den Käfig noch mit dem Hörrohr geprüft.“ Die Konstrukteure der Firmen Mercedes-Benz und Adler-Motorradbau sind begeistert und erklären sich sofort bereit, das neue Produkt in ihren Fahrzeugen einzubauen. Die beiden Großaufträge gehen am gleichen Tag im Februar 1951 ein, Bestellungen von Borgward und Auto-Union folgen.
Und es geht weiter. Bis 1953 sind Georg Schaeffler und sein älterer Bruder Wilhelm (1908–1981) in wöchentlichem Wechsel in Westdeutschland auf Achse. Die Leiter der Entwicklungs- und Konstruktionsabteilungen müssen von den neuen Produkten persönlich überzeugt werden. Schaeffler: „In einem alten Mercedes bin ich durchs ganze Land gefahren – mit zehn Reservereifen im Kofferraum, weil man bei den schlechten Straßen dauernd eine Panne hatte. Ich kannte Deutschland wie meine Westentasche.“
Auf die bahnbrechende Erfindung des INA Nadelkäfigs folgen viele weitere, zum Beispiel im Bereich Motorenelemente. Zwischendrin – nach Gründung der LuK – kommen Entwicklung und Produktion von Kupplungen und Getriebesystemem hinzu. Im Laufe seiner Schaffenszeit meldet Dr. Georg Schaeffler insgesamt 70 Erfindungen zum Patent an. Seine letzte Patentanmeldung wird im Juli 1996 eingereicht. Der Titel: „Tassenförmiger Ventilstößel“.
„Das Unternehmen war sein Leben, seine Berufung und sein Hobby an 365 Tagen im Jahr“, sagte Maria-Elisabeth Schaeffler-Thumann anlässlich des 100. Geburtstags in ihrer Rede. 33 Jahre waren die beiden verheiratet, „fordernd“ nennt sie das Leben an der Seite des unermüdlichen Mannes.
Technische Genialität und soziale Ader
Allein in den Jahren 1960 bis 1970 verdoppelt sich die Zahl der Mitarbeiter weltweit von 5.700 auf 10.700, in Herzogenaurach steigt sie um fast 50 Prozent von 2.325 auf 3.400 Betriebszugehörige. Schaeffler sorgt in den 1950er- und 1960er-Jahren für Wohnraum für seine Arbeiter, für die Altersvorsorge und für einen Werkssupermarkt. Ein Betriebskindergarten wird geschaffen, Ferienheime, Versicherungen mit günstigen Tarifen und Betriebssportgruppen. Nicht jeder hat mehr wie früher die Möglichkeit, einfach im Vorbeigehen mit „Georg“ einen Plausch zu halten, dafür hat der emsige Konzernchef kaum noch Zeit.
Das Unternehmen war sein Leben, seine Berufung und sein Hobby an 365 Tagen im Jahr
Maria-Elisabeth Schaeffler-Thumann
Am 2. August 1996 verstirbt Dr. Schaeffler im Alter von 79 Jahren. Seiner Frau und seinem Sohn hinterlässt er ein prosperierendes Unternehmen mit rund 20.000 Mitarbeitern, aktuell sind es rund 87.000. Georg Friedrich Wilhelm Schaeffler sagt anlässlich der Trauerfeier über seinen Vater: „Eines haben wir alle gemeinsam. Die Erinnerung an seine technische Genialität, seine Fähigkeiten, neue Möglichkeiten zu sehen, über den Tellerrand zu schauen, kurz – um seine eigenen Worte zu verwenden – querzudenken. Ich bin mir sicher, dass wir uns an seine Fähigkeit erinnern, Menschen zu motivieren, sie nicht nur zum Mitarbeiten, sondern zum Mitdenken zu bewegen und ihr Gehirn, oder, wie er es nannte, den Biocomputer, einzusetzen.“