Die Allesblicker
Wenn aus einem Nachnamen ein Verb wird, ist meist Historisches passiert. So wie am 8. November 1895, als ein gewisser Wilhelm Conrad Röntgen im Physikalischen Institut der Uni Würzburg mit einer Kathodenstrahlröhre herumexperimentierte. Dieser strahlende Zufall gilt heute als Entdeckungstag der von ihm so genannten X-Strahlen. Ein paar Wochen später gelang Röntgen die weltberühmte Aufnahme von der Hand seiner Frau, bei der Knochen und Ehering klar zu erkennen sind. Mehr als 30 Minuten musste sie dafür stillsitzen.
Bis auf die Tatsache, dass Patienten heute in der Regel nur noch wenige Sekunden bewegungslos ausharren müssen, wird die von Röntgen entwickelte Technik auch mehr als 125 Jahre später fast unverändert angewandt. Allerdings bei Weitem nicht mehr nur in Krankenhäusern und Arztpraxen.
Früher 2D, heute 3D
Schon seit Mitte der 1990er-Jahre durchleuchten riesige Röntgenanlagen (58 Meter lang, 25 Meter breit) stählerne Seefrachtcontainer aus aller Herren Länder im Hamburger Hafen – seitdem brachten sie mehr als eine Milliarde unversteuerte Zigaretten, Tausende Kilogramm Kokain und fast genauso viele Liter gefälschte Parfüms zum Vorschein – allerdings noch mittels der althergebrachten zweidimensionalen Röntgenmethode.
In der Industrieforschung bedient man sich dagegen anderer Vorgehensweisen, wie der seit den 1970er-Jahren in der Medizin gebräuchlichen Computertomografie (CT) – einer Weiterentwicklung des Prinzips Röntgen – bei der Hunderte Aufnahmen aus verschiedensten Richtungen ein dreidimensionales Bild entstehen lassen. Ob bei Materialtests für Fahrzeuge, bei der Analyse von Metall-Legierungen oder bei der Prüfung von Werkzeugen – das Durchleuchten mit Röntgenstrahlen ist für die Qualitätssicherung und Entwicklung von Innovationen unverzichtbar geworden.
Größter Computertomograf der Welt steht in Fürth
Geröntgt wird mittlerweile fast jedes Format. Forschern des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen (IIS) in Fürth, unweit des Schaeffler Stammsitzes in Herzogenaurach gelegen, ist es gelungen, eine Technologie zu entwickeln, die Objekte mit einem Durchmesser bis zu 3,20 Meter und fünf Meter Höhe durchleuchten und hochauflösende 3D-Bilder generieren kann. Eine spezielle Technik, die ein Objekt in Teilen aufnimmt, ermöglicht sogar das Scannen noch größerer Gegenstände. Damit ist die Anlage die zurzeit größte CT-Anlage der Welt.
Als Röntgenquelle nutzen die Forscher einen Linearbeschleuniger mit neun Megaelektronenvolt (MeV) – zirka das 300-fache wie in der medizinischen Röntgendiagnostik (30 KeV bis 150 KeV) – und kombinieren ihn mit einer vier Meter breiten Röntgenkamera.
Der Fürther XXL-Scanner kann im wahrsten Sinne des Wortes haarfeine Strukturen sichtbar machen: Selbst 0,1 Millimeter (100 Mikrometer) dünne Feststoffe werden im Extremfall dargestellt, bei sehr großen Objekten mit mehreren Metern Durchmesser sind es immerhin etwa 0,5 Millimeter. Die zu röntgenden Gegenstände rotieren dabei auf einem Schwerlastdrehteller. Kamera und Strahlenquelle tasten das Objekt synchron in vertikalen Bewegungen Zeile für Zeile ab.
Die Röntgentechnik ist eine der genialsten Entdeckungen aus Deutschland.
Michael Salamon, Gruppenleiter am Fraunhofer-Entwicklungszentrum Röntgentechnik (EZRT), einem Bereich des IIS
Ohne Zerlegen: Elektroautos, Flugzeuge und historische Artefakte im Röntgenbild
Elektroautos nach Crashtests: Die starke Röntgenstrahlung macht sogar Strukturen in dicht gepackten Akkus sichtbar. „Nach einem Crash wird der Akku von Elektromobilen idealerweise von niemandem mehr angefasst, weil nie klar ist, welche Schäden an der Struktur entstanden sind und was sie bewirken. Mit unserer Röntgenprüfung gestalten wir die Crashanalyse sicherer und effizienter und geben unseren Industriepartnern Ergebnisse an die Hand, mit denen sie Sicherheitsstandards für Autofahrer wesentlich verbessern“, sagt Salamon.
Frachtcontainer: Durch die 3D-Röntgentechnik werden auch kleine Objekte im Inneren der Container deutlich sichtbar. Gerade für Sicherheitsbehörden, die Frachtcontainer nach Sprengstoff oder Waffen durchsuchen, aber auch für Zollbehörden, die nach Schmuggelware suchen, kann die IIS-Technologie einen Mehrwert liefern.
Abfangjäger Messerschmitt ME163: „Wir haben den digitalen Zwilling eines Raketenjägers aus dem 2. Weltkrieg erzeugt“, berichtet Salamon. Die Bilder aus dem Inneren der Messerschmitt ME163, die mit abmontierten Flügeln geröntgt wurde, brachten neue Erkenntnisse über die Geschichte des raketengetriebenen Abfangjägers, der von den Nazis einst als Wunderwaffe gepriesen wurde, was er aber definitiv nicht war. Aufgrund seiner risikoreichen Konstruktion habe er vielmehr einer fliegenden Zeitbombe geglichen, so Salamon, da der Pilot unmittelbar zwischen zwei Treibstofftanks saß.
Musikinstrumente aus dem Mittelalter: Gerade bei historischen Instrumenten ist oft nicht klar, wie sie in unzugänglichen Bereichen gebaut sind, oder ob sie aufgrund der Lagerung oder langjährigen Nutzung im Inneren beschädigt sind. Zerlegen ist aber oft schier unmöglich. Auch da hilft die Computertomografie. Im Projekt „Musical Instrument Computed Tomography Examination Standard“ (MUSICES) haben Salamons Kollegen über 100 historisch bedeutsame Instrumente dreidimensional abgebildet und sogar Richtlinien zum Scan von Musikinstrumenten erarbeitet.
Peruanische Mumie: Bis auf das grobe Alter (11.–15. Jahrhundert) und die Herkunft war über die Mumie vor dem Scan kaum etwas bekannt. Durch die 3D-CT wurden hinter den Dutzenden Lagen von Baumwolltüchern zahlreiche Grab-Beigaben (Muscheln, Armbänder) identifiziert. Sogar ein Maiskolben im Kopfbereich wurde entdeckt. Bislang waren für die Betrachtung solcher hochauflösenden Datensätze teure Industriecomputer notwendig. Dank neu entwickelter Software lässt sich der hochaufgelöste Datensatz nun mit einem handelsüblichen Notebook betrachten.
Dynamischer Blick ins Innere
Und die Entwicklung schreitet weiter voran. Das Fraunhofer-Forscherteam ist bereits in der Lage, auch dynamische Prozesse bis ins kleinste Detail zu durchleuchten und analysieren. Eine Kombination aus optischer Hochgeschwindigkeits- und Röntgenaufnahme.
Wieder Beispiel Crashtests: Ingenieuren brennen folgende Fragen unter den Nägeln: Was genau geschieht im Moment des Aufpralls im Fahrzeuginneren? Werden die Kräfte wie geplant auf die verschiedenen Bauteile verteilt? Im Forschungsprojekt „MAVO fastX-crash“ am EZRT werden diese Fragestellungen erörtert. Dabei wird die Verformung des Wagens von Hochgeschwindigkeitskameras genauestens gefilmt. Der Clou: Die optische Zeitlupe und die Röntgenaufnahme mit mehr als 1.000 Bildern pro Sekunde werden synchron aufgezeichnet – so ist eine direkte Gegenüberstellung möglich. Bild für Bild können die Fachleute nachvollziehen, wie sich Berechnungen und Versuch gleichen. Sogar eine 4D-CT lässt sich so umsetzen, also die zeitlich aufgelöste dreidimensionale Darstellung.
Eine wesentliche Schlüsselkomponente dabei ist der Röntgendetektor, der die Strahlen aufnimmt, die nicht vom zerstörten Wagen absorbiert werden. Die Forscher in Fürth steigerten die Empfindlichkeit dieser Detektoren so weit, dass schon mit üblichen industriellen Standard-Röntgenquellen bei 1.000 Bildern pro Sekunde eine Bildqualität erzielt wird, die tief ins Innere blicken lässt. Wo Ingenieure bislang aufwendig Knete aufgetragen haben, um die Verformungen nach dem Crash zu analysieren, kann nun einfach ein Röntgenfilm erstellt werden. Schneller, zuverlässiger und detailreicher.