Mit dem Wind gegen den Wind
Gerade so passt eine Hand zwischen Asphalt und Rennwagen. Der Spalt zeigt: Aerodynamik ist alles. Und Gewicht. 171,7 Kilogramm ist der weitgehend aus Kohlenstofffaser gefertigte Bolide leicht. Die vier Räder sind dünn wie bei einem Rennrad; am auffälligsten aber sind die beiden Rotoren über dem Cockpit. Die Flügel sind der Motor des Rennwagens – und der Wind ist der Treibstoff.
Willkommen beim Aeolus-Race, einem Rennen der besonderen Art. Hier stehen keine kreischenden Zwölfzylinder am Start, sondern sogenannte Gegenwindfahrzeuge. Im Prinzip sind es fahrende Windturbinen. Ausgetragen wird das Rennen im niederländischen Den Helder. Die Rennstrecke ist ein asphaltierter Deich, 500 Meter lang. Gut ein Dutzend universitäre Teams aus aller Welt nehmen teil. Ziel des Rennens ist es, schneller als der Wind zu fahren. Daher ist es schwer, die tatsächlichen Geschwindigkeiten anzugeben – sie hängen maßgeblich von der vorherrschenden Windgeschwindigkeit ab. Bei guten Bedingungen sind es 40 km/h. Das Besondere: Die Rennautos fahren direkt in den Wind und nicht mit ihm im Rücken. Der Clou: Je schneller das Fahrzeug fährt, desto stärker weht der scheinbare Wind, also die Summe aus wahrem und Fahrtwind – damit steigt die Antriebsleistung.
Effizienz führt zum Sieg
Wie es überhaupt möglich sein kann, gegen den Wind zu fahren, erklärt Michael Liebl: Die Summe aller Reibungen – angefangen bei den Rotorblättern über das Getriebe bis hin zu den Rädern – muss geringer sein als die aus dem Wind gewonnene Vortriebskraft. Liebl ist einer der drei Teamchefs des von Schaeffler unterstützten Rennstalls InVentus von der Universität Stuttgart, wo das „Ventomobil“ entwickelt und gebaut wurde.
Dass man überhaupt schneller fahren kann als der Wind bläst, war lange reine Theorie. Erst 2016 bewies das dänische Team DTU, dass es geht: Es erreichte mit seinem Gefährt 101,76 Prozent der damaligen Windgeschwindigkeit. 2017 übernahmen dann die Kanadier von Chinook ETS die Führung: 102,45 Prozent. Dasselbe Team schaffte 2019 stolze 113,97 Prozent – Weltrekord!
113,97 %
schneller als der Wind, der die einzige Antriebsenergie lieferte, fuhr der Weltrekordhalter beim Aeolus-Race 2019 – und das nicht etwa mit Rückenwind, sondern geradewegs in den Wind hinein. Aufgestellt hat die Bestmarke das kanadische Team Chinook ETS. Das heißt, das hocheffiziente Fahrzeug (Abbildung) würde bei 40 km/h Windgeschwidigkeit 45,588 km/h erreichen.
Mit bis zu 1.500 Umdrehungen pro Minute drehen sich die Flügel des Ventomobils. „Wir brauchen nicht einmal die Hälfte der Beschleunigungsstrecke, um unsere Zielgeschwindigkeit zu erreichen“, sagt Liebl. Neben der prozentualen Geschwindigkeit im Verhältnis zum Wind werden auch die Beschleunigung und die Innovationskraft bewertet.
Erfindergeist und Kreativität sind gefragt
Begonnen hat das Engagement der Stuttgarter 2007. Damals starteten zwei Studenten mit dem Bau des ersten Ventomobils. Es war ihre Abschlussarbeit. Das Fahrzeug bestand aus einem Kohlefaser-Chassis und einem Rotor, der die Räder direkt antrieb. Der Aufwand hat sich gelohnt: 2008 gewannen sie den Boysen-Preis für die beste Diplomarbeit im Bereich Umwelttechnik. „Ein Projekt wie InVentus stellt eine Herausforderung für die angehenden Ingenieurinnen und Ingenieure dar, weil dort das Theoriewissen, der Erfindergeist und Kreativität gefragt sind. Solche Fähigkeiten für den zukünftigen Beruf lernt man nicht im Hörsaal, sondern in der Praxis“, sagt Po Wen Cheng, Professor für Windenergie an der Universität Stuttgart.
„Die Idee von Racing Aeolus ist es, Autos (Wind Powered Vehicles – WPV) zu entwickeln und zu bauen, die Energie aus dem Wind erzeugen können, während sie gegen den Wind fahren und mit anderen Teams aus der ganzen Welt konkurrieren. Es ist eine echte Herausforderung für die studentischen Teams. Standhaftigkeit, Kooperation, Ausdauer und Unerschrockenheit sind die Schlüsselwörter. Sie lernen den Umgang mit erneuerbarer Energie. Einige von ihnen sind wirklich motiviert und schaffen es, einen Job in diesem Bereich zu finden“
Hans Verhoef,
Vorsitzender des Rennens
Im Laufe der Jahre entwickelten die Schwaben drei verschiedene Fahrzeuge. Die neueste Generation ist ein Hybrid: Gleich zwei Rotoren fangen den Wind ein. Der eine liefert sein Drehmoment direkt an die Hinterräder, der andere treibt einen Generator an, der wiederum zwei Elektromotoren auf der Vorderachse speist. So gingen die Stuttgarter ans Maximum dessen, was an Rotorfläche erlaubt ist: vier Quadratmeter, wobei der maximale Rotordurchmesser zwei Meter nicht überschreiten darf. Der Hybrid-Ansatz ist zwar mit Umwandlungsverlusten verbunden, erleichtert aber die Kraftübertragung von den beiden Rotoren. Statt komplizierter Wellen und Getriebe braucht es für den elektrischen Teil des Antriebsstrangs nur ein Kabel.
Zum Sieg hat es bei der letzten Teilnahme im Jahr 2018 aber nicht gereicht. „Unsere eigens entwickelte Leistungselektronik ist erst kurz vor dem Rennen fertig geworden. Wir konnten sie nur auf Funktionalität, nicht aber auf ihren Wirkungsgrad hin testen“, sagt der damalige Teamchef Julian Fial. Deshalb sind die Stuttgarter nur mit dem mechanischen Antrieb gestartet und erreichten nur 95,6 Prozent der Windgeschwindigkeit. Da sie mit ihrem Hybridantrieb den Innovations-Award gewannen, landeten sie im Gesamtergebnis dennoch auf Platz zwei.
2020 und 2021 fanden aufgrund der Covid-19-Pandemie keine Rennen statt. „Das Team war aber nicht untätig und hat die Zeit genutzt, einige Neuerungen und Verbesserungen zu entwerfen, welche zum Teil noch in das Fahrzeug integriert werden müssen“, sagt Co-Teamchef Liebl. Dazu gehören etwa eine neue Rotornabe mit Drehmomentenmessung, ein neuer Rotor mit Dreiblatt-Geometrie, ein neuer Antriebsstrang mitsamt neuer Lager vom Sponsor Schaeffler oder die neue aerodynamische Abdeckung des kompletten Hinterwagens auf Basis einer gewickelten Flachsfaser-Struktur.
Michael Liebl und seine Teamkollegen sind optimistisch, was das nächste Rennen angeht: „Da zeigen wir, was unser Hybridantrieb kann.“