„Neu kalibrieren, neu erfinden – in alle Richtungen“
Schön, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben, Herr Schick. Wir können uns vorstellen, dass diese aktuell knapper denn je ist angesichts der Krisen, die sich aneinanderreihen und die Lieferketten in Dauerstress versetzen, wie die anhaltende Pandemie oder der Ukraine-Krieg. Wie ist der Status quo?
In der Tat, die Lage bei den Lieferketten ist sehr angespannt. Das merken wir jeden Tag – sowohl im Privatleben als auch in der Wirtschaft. Betrachtet man die für Schaeffler relevanten Bereiche Industrie und vor allem Automotive, kann man aber auch sagen, dass unsere Lieferketten stabil sind. Sie haben unter den Belastungen hier und da geklemmt, sind aber nicht gerissen.
Belastungstests sind immer auch eine Möglichkeit, Stärken und Schwächen zu erkennen und daraus zu lernen. Welche Erkenntnisse haben Sie in den letzten Monaten gewonnen?
Uns allen ist noch bewusster geworden, wie systemkritisch Transport- oder Lieferketten sind. Die meisten Lieferketten, soweit ich es aus meinen Bereichen beurteilen kann, haben den Belastungen der vergangenen Monate standgehalten. Es waren aber große Anstrengungen nötig, die Systeme am Laufen zu halten, weil viele Transportwege noch nicht auf moderne Produktionsprozesse ausgelegt sind.
Inwiefern?
Schauen Sie sich beispielsweise ein Containerschiff von heute an. Das ist gewaltig in den Dimensionen. Sehr eindrucksvoll – aber eben auch viel zu starr, viel zu unflexibel. Das passt nicht mehr zu modernen Produktionsprozessen, in denen Individualität statt Masse eine immer größere Rolle spielt. Wie lange soll man denn warten, bis so ein Container-Riese voll beladen ist? Und nur dann rechnet er sich, von Nachhaltigkeitsaspekten mal ganz abgesehen. Auch wenn sich durch Marktbewegungen, Handelsbeschränkungen oder wie auch immer geartete Verknappungen Frachtrouten ändern, was ja zuletzt häufig der Fall war, geraten auf Masse getrimmte und sehr komplexe Lieferketten sehr schnell aus der Balance. Und dann wird es eben teuer und ineffizient. Wir brauchen also – um im Bild zu bleiben – mehr effiziente Schnellboote und weniger kostspielige Riesenpötte. Und das in allen Bereichen. Lieferketten müssen sich neu kalibrieren und neu erfinden. Und zwar in viele Richtungen.
„Die Lieferketten werden weniger global werden, dafür regional oder gar lokal und damit krisenfester."
Auch in Sachen Standorte?
Ja. Gerade in diesem Bereich wird sich aus meiner Sicht einiges deutlich ändern müssen – und es wird sich auch ändern. Die Lieferketten werden weniger global werden, dafür regional oder gar lokal und damit krisenfester. Auch das haben wir in den letzten zweieinhalb Jahren gelernt.
Was noch?
Sich aus Abhängigkeiten von Lieferanten sowohl bei Gütern als auch bei Rohstoffen zu befreien. Lieferketten müssen sich diversifizieren, um resilienter gegen Störungen zu werden.
Kann man solche Abhängigkeiten – um zu einem weiteren Bereich Ihrer Vorstandsverantwortung zu kommen – auch durch Produktionsumstellungen lösen? Es käme ja auch der Nachhaltigkeit zugute, wenn man kritische Materialien ersetzen könnte.
Das passiert bereits vor allem, wenn es um Produkte geht. Die Zahl der aus dem Periodensystem genutzten Elemente wird immer größer. Auch bei Schaeffler. Das liegt daran, dass die Produktpalette größer wird, aber eben auch daran, dass man gewisse Dinge verändern will, sei es aufgrund von Materialverfügbarkeit oder Nachhaltigkeit. Viel passiert in den Bereichen Bioengineering und Biomasse, sowohl was Materialien angeht als auch Prozesse. Ich denke hier beispielsweise an schadstoff- und energiereiche chemische Prozesse, die in einigen Wertschöpfungsketten durch mikrobiologische ersetzt werden. Auch das ist ein Thema bei Schaeffler.
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Lieferanten wurden beim diesjährigen Schaeffler Supplier Day für herausragende Leistungen in der Zusammenarbeit geehrt. Andreas Schick sagte: „Ein großer Hebel zur Reduktion der Treibhausgase entsteht bereits bei unseren Lieferanten. Wir müssen Materialien neu denken und deren Produktionsprozesse neu gestalten. Dies erwarten wir auch von unseren Lieferanten. So schaffen wir es gemeinsam, Klimaneutralität bis 2040 zu erreichen.“
Ein aktuell sehr populärer Buchstabe im Periodensystem ist das H für Wasserstoff. Zu Recht?
Auf jeden Fall. Wasserstoff ist aus unserer Sicht nicht nur der Energieträger der Zukunft, sondern ein zentraler Baustein für eine Dekarbonisierung der globalen Wirtschaft und vieler Produktionsprozesse. Er kann fossile Grundstoffe in der chemischen, petrochemischen, stahlerzeugenden oder auch Agrarindustrie ersetzen. Bei Schaeffler steht das Thema „grüner Stahl“ im Fokus, bei dem Wasserstoff den bisher genutzten Kohlenstoff bei der Eisenerzreduktion ersetzt. Wir haben einen direkten und indirekten Stahlbedarf von rund zwei Millionen Tonnen pro Jahr. Und für jede Tonne Stahl fallen rund zwei Tonnen CO₂-Emissionen an. Die Zahlen machen deutlich, dass hier ein großer Hebel besteht, wenn wir bei Schaeffler vom Zieljahr 2040 für eine klimaneutrale Produktion sprechen. 85 Prozent unseres CO₂-Fußabdrucks liegen im Zukauf von Stahl und anderen Materialien, dem sogenannten Scope-3-Upstream. Insofern liegt hier auch unser Fokus.
Gibt es konkrete Beispiele, wie Schaeffler hier gegensteuert?
Wir haben jüngst als einen ersten nennenswerten Schritt im Bereich Materialzukauf eine Kooperation mit dem schwedischen Green-Steel-Start-up H2GS vereinbart, die ab 2025 eine Zulieferung von 100.000 Tonnen grünem Stahl beinhaltet. Da das aber für uns nicht bedarfsdeckend ist, werden wir auch mit anderen Lieferanten den konsequenten Weg hin zu CO₂-neutralem Stahl gehen. Und die Dekarbonisierung des Stahls ist nur der erste Schritt, als Nächstes folgen Kunststoff und Aluminium.
Wie beeinflusst Wasserstoff globale Lieferketten?
Zum einen kann er beim Bewegen der Güter als Antriebsenergie genutzt werden. Die Logistik macht zwischen fünf und sechs Prozent des globalen CO₂-Fußabdrucks aus, Tendenz steigend. Hier kann Wasserstoff gerade im Mittel- und Langstreckenverkehr helfen, Emissionen zu senken. Zum anderen sind die strukturellen Veränderungen nicht zu unterschätzen, die nötig werden, um die Lieferketten auf eine Wasserstoffwirtschaft anzupassen.
Was meinen Sie damit genau?
Wir müssen uns nicht nur mit Erzeugung, Transport und Nutzung von Wasserstoff beschäftigen – was Schaeffler in den Bereichen Brennstoffzellentechnologie und auch der Entwicklung von LOHC, also flüssigen organischen Wasserstoffträgern, tut –, sondern auch damit, ob ein Transport von Wasserstoff überhaupt sinnvoll ist. Teilweise wird es so sein. Aber mit Sicherheit nicht komplett. Es wird auch Produktionsprozesse geben, bei denen es sinnvoller ist, Wasserstoff vor Ort zu nutzen. Nehmen wir auch hier das Beispiel Stahl. Früher hat sich die Stahlindustrie dort angesiedelt, wo die Kohle für die Eisenerzreduktion war. In Deutschland war das das Ruhrgebiet. In Zukunft wird die Stahlindustrie oder zumindest ein Teil dort sein, wo grüner Wasserstoff hergestellt werden kann oder unkompliziert verfügbar ist. Bei solchen Überlegungen kann es durchaus sinnvoll sein, darüber nachzudenken, integrierte Stahlwerke aufzusplitten. Die Eisenerzreduktion erfolgt dann nahe der Wasserstoffquelle, die Stahlproduktion eher beim Abnehmer. Man wird diverse Lieferketten auf die Produktionsszenarien, die im Zuge der Wasserstoffwirtschaft neu geordnet werden, anpassen müssen.
Kommen wir vom Wasserstoff zum Technologiedauerbrenner Digitalisierung. Wie kann diese helfen, Lieferketten effizienter und nachhaltiger zu gestalten?
Die Digitalisierung kann vor allem helfen, die komplexen Systeme der Warenströme transparenter zu machen. Wie das geht? Wir alle kennen Google Maps und nutzen es, wenn wir uns im Straßenverkehr bewegen. Weil alle Fahrzeuge und ihre Besatzungen permanent Daten in Echtzeit abliefern, ist Google Maps der perfekte digitale Zwilling des realen Verkehrsgeschehens. Dadurch können wir immer sehen, ob Verkehrsprobleme auf der Strecke sind und wann wir ankommen werden. Bei den Warenströmen fehlt so ein ganzheitlicher digitaler Zwilling, bei dem die Daten aller Beteiligten zusammenfließen und ausgewertet werden. Das würde ungemein helfen, die komplexen Systeme der Lieferketten zu synchronisieren, sie effizienter und nachhaltiger zu machen.
Ist die Digitalisierung in der Produktion weiter?
Zumindest für Schaeffler kann ich das mit einem deutlichen Ja beantworten. Wir haben pro Jahr mehrere Tausend Maschinen vernetzt und tun dies immer noch. In drei Jahren wollen wir eine hundertprozentige Vernetzung erreicht haben. Das heißt, wir haben dann einen exakten Überblick, welche Maschine wo, woran und wie viel arbeitet. Treten Leerläufe, Überlastungen oder Störungen auf, können wir sofort eingreifen. Durch die Vernetzung optimieren wir die Effizienz der internen Wertströme und den Energieeinsatz.
Den Materialeinsatz nicht?
Da muss man viel früher ansetzen, nämlich schon in der Produktentwicklung. Früher standen hier Performance und Kosten im Vordergrund. Heute rücken materiale Nutzung, Ressourcenschonung und CO₂-Effizienz immer mehr in den Fokus. Nicht zuletzt, weil es auch bei unseren Kunden eine wichtigere Rolle spielt. Die Digitalisierung hilft bei der Optimierung der Prozesse anhand der erfassten Kennwerte ebenso wie bei der Synchronisation von Produktentwicklung und Produktion. Wobei die Verzahnung dieser Regelkreise bei Schaeffler traditionell sehr eng ist – was natürlich nicht heißt, dass wir nicht auch hier noch besser werden wollen. Wenn wir von der Optimierung von Prozessen reden, dürfen wir unsere vor- und nachgelagerten Partner nicht außer Acht lassen. Auch hier wird eine engmaschigere digitale Vernetzung helfen, Ressourcen zu schonen.
Sie haben die Partner angesprochen. Wie wichtig sind diese für das Erreichen der eigenen Nachhaltigkeitsziele?
Wir sehen es als unsere Aufgabe an, die neuen Lieferketten gemeinsam mit unseren Partnern in der gesamten Länge zu verstehen und weiterzuentwickeln. Daher wird es ganz entscheidend sein, für die nötigen Prozesse die richtigen Partner zu finden. Und da meine ich nicht nur fachliche Kompetenz, sondern auch die feste Überzeugung, dass der Weg zu einer nachhaltigen Welt ohne Wenn und Aber gegangen werden muss. Ebenso wichtig ist der Konsens, dass das mit massiven zusätzlichen Kosten verbunden sein wird, die letztlich auch vom Endverbraucher getragen werden müssen, also von uns allen. Darüber müssen wir uns gleichermaßen im Klaren sein.
Der Erfolg von Veränderungen hängt ja immer stark von Menschen ab. Wie stimulieren Sie den Pioniergeist Ihrer Mitarbeitenden?
Der muss eigentlich nicht stimuliert werden. Der Pioniergeist ist in der DNA von Schaeffler fest verankert. Wir verspüren eine sehr, sehr hohe Motivation bei unseren Mitarbeitenden, nachhaltige Lösungen in allen Werken, an allen Standorten zu entwickeln und umzusetzen. Die Leute sind stolz darauf, neue Wege zu gehen. Egal ob in der Produktentwicklung, in der Fertigung oder dabei, die notwendigen Dinge in den Lieferketten zu etablieren. Um Spitzenleistungen unserer Mitarbeitenden aktiv zu fördern und wertzuschätzen, hat der Vorstand zusammen mit den Familiengesellschaftern vor ein paar Jahren den Schaeffler Award ins Leben gerufen. Dieser wird von Herrn Schaeffler persönlich an die Sieger in vier Kategorien überreicht, die unsere Unternehmenswerte „Nachhaltig“, „Innovativ“, „Exzellent“ und „Leidenschaftlich“ widerspiegeln. Auch das zeigt, welch hohen Stellenwert der Pioniergeist der Belegschaft im Unternehmen genießt.
Verraten Sie uns zum Abschluss noch, wo Schaeffler aktuell steht auf dem Weg zu „Zero Emission“?
Wir wollen ab 2040 klimaneutral wirtschaften. Dieses Ziel bezieht die gesamte Lieferkette ein und wird mit ambitionierten Mittelfristzielen untermauert. Die eigene Produktion, also Scope 1 und 2, wird bereits bis 2030 klimaneutral sein. Da wir unsere Pläne konsequent umsetzen, sind wir auf einem sehr guten Weg. Seit 2021 bezieht Schaeffler an den Produktionsstandorten in Europa zu 100 Prozent Strom aus regenerativen Quellen. Bis 2024 wollen wir mit allen Standorten weltweit nachziehen. Auch in puncto Energieeffizienz geht es gut voran. Schon in diesem Jahr werden wir rund 47 Gigawattstunden einsparen, was in etwa dem jährlichen Strombedarf von 15.000 Zweipersonenhaushalten in Deutschland entspricht. Unsere Sustainability Roadmap wird planmäßig umgesetzt. Die internationale Non-Profit-Organisation Carbon Disclosure Project hat uns in einem speziellen Wasserrating von „B–“ auf „A–“ nach oben gestuft und uns insgesamt auch mit „A–“ bewertet. Im Nachhaltigkeitsrating von EcoVadis hat die Schaeffler Gruppe 75 von 100 möglichen Punkten erreicht und damit Platinstatus. Damit gehören wir dort nun zum besten einen Prozent in der Vergleichsgruppe.