Nur Mut!
Mehr als 150 Kapitäne habe ich im Laufe der Jahre interviewt. Vieles, was sie im Auge des Sturms durchgestanden haben – mit Ruhe, Mut, Überzeugung und Tatkraft – lässt sich aufs Leben übertragen. Auch aufs Wirtschaftsleben. Kapitäne in schwerer See können Vorbild sein für Führungskräfte, die Konflikte und Krisen lösen müssen.
Manchmal geht es um die Frage von Leben oder Tod. Wie im Falle des Hamburger Kapitäns Emil Feith, der den Massengutfracher „Svea Pacific“ durch einen Jahrhundertsturm brachte. Der Orkan brüllte damals mit einer Stärke, die selbst der alte Seemann noch nie erlebt hatte. Vor der Brücke vermischten sich Gischt und Wellen zu einer grauen Wand. Schläge gingen durch das Schiff und der Stahl schrie. Ein Offizier bat den Kapitän in den Salon, ein Deck tiefer. Dort hatte sich die Crew versammelt. Die Männer waren bleich vor Angst und starrten hinaus ins Inferno. Sie trugen Rettungswesten.
Das alles passierte im Oktober 1991. Auf dem Nordatlantik vereinigten sich ein Hurrikan und ein arktisches Tiefdruckgebiet zu etwas, das die Meteorologen den „perfekten Sturm“ nannten. Hollywood machte daraus einen Blockbuster, mit George Clooney in der Hauptrolle. Mittendrin in dieser rauen Realität wurde der Massengutfrachter „Svea Pacific“ von den Brechern hin und her gerissen. Kapitän Feith auf der Brücke. Mit jedem Wort, das er mir erzählt, bewundere seine Widerstandskraft, seine Zähigkeit, und seine Gabe, Schiff und Crew durchzubringen mehr und mehr.
Ängste einfach wegpfeifen
„Ich war nicht sicher, dass wir es schafften“, sagte mir der alte Seemann. „Um ehrlich zu sein, glaubte ich jede Stunde weniger daran.“ Wie es trotzdem gelang? Welle für Welle für Welle. Um eine Panik zu verhindern, griff er nach einer Kassette, die ihm seine Frau mitgegeben hatte. Johnny Cash, es geht im Lied darum, dass das Wasser steigt: Five feet high and risin’. Der Kapitän pfiff dazu, als sei man an einem Sommertag im Hamburger Hafen unterwegs und nicht mitten auf dem lebensfeindlichen Nordatlantik. Als der Chef der Maschine in den Salon kam und sich – auf Deutsch – erkundigte, wie denn die Lage sei, antwortete Feith: „Sieht nicht gut aus“. Dann grinsten beide, als hätten sie einen schmutzigen Witz gerissen – und schnauzten die internationale Crew auf Englisch an, sie solle sich gefälligst nicht so anstellen. Das Ablenkungsmanöver gelang.
„Ein Kapitän muss manchmal auch ein Schauspieler sein.“
Kapitän Emil Feith
Nun sind wir nach Corona und in einer durch den Ukraine-Krieg weiter zugespitzten geopolitischen Weltlage alle in einem großen Sturm gefangen. Unsicherheit ist überall zu spüren und greift tief hinein ins berufliche und private Leben. An den Arbeitsplatz, in die Familien, in den Freundeskreis. Viele Menschen fragen sich: Wie bekomme ich mein Schiff – meine Firma, meine Familie – einigermaßen sicher durch den Sturm? Wenn sich jemand mit dieser Frage auskennt, dann sind es Kapitäne.
Ich erkenne Muster in ihrem Handeln. Wie sie sich auf schweres Wetter vorbereiten. Wie sie ihre Crew anleiten und ihr Schiff hindurchführen. Ich bin überzeugt, dass im ruhigen Handeln der Kapitäne Ansätze stecken, die sich auf den Alltag übertragen lassen. Dies betrifft die Erwartung eines Orkans un ddie entsprechenden Vorbereitungen ebenso wie die Frage, wie man inmitten des größten Chaos die Nerven behält. Wie man Autorität, Führungsstärke und damit auch Sicherheit ausstrahlt, ohne sich diktatorisch zu verhalten. Wie weit man sich selbst und anderen vertraut und ob man sich von den eigenen Emotionen, vor allem von der Angst, davontragen lässt.
Klares Denken, klares Handeln, klare Ansagen
Womit wir beim Thema „Dienstgesicht“ wären. Ein Kapitän müsse manchmal auch Schauspieler sein, erzählte mir Kapitän Feith. Für Gefühle sei in einer Krisensituation kein Platz – und generell gehöre es sich nicht für einen Kapitän, andere an Emotionen teilhaben zu lassen. „Emotionen“ klang, so wie er das sagte, wie etwas Unappetitliches, das man nicht unter seinem Schuh haben möchte.
Klares Denken, klares Handeln, klare Ansagen, Zeit für das „Dienstgesicht“. Ich mag das Konzept auch deshalb, weil es so aus der Zeit gefallen zu sein scheint, in einer Gegenwart, in der jeder sein Inneres in sozialen Medien nach außen kehrt. In stürmischen Zeiten, wenn Menschen verunsichert sind, verschärft übersteigerte Emotionalität die Dinge nur. Das „Dienstgesicht“ hingegen vermittelt Ruhe und Entschlossenheit. Die Entschlossenheit, bis zur letzten Minute um Schiff und Crew zu kämpfen. Wichtig dabei: Bei der Führungsposition des Kapitäns geht es nicht um Macht. Im Gegenteil: Gerade viele alte Kapitäne zeichnet die Eigenschaft aus, sich selbst und das eigene Befinden nicht zu wichtig zu nehmen. Mehr „wir“, weniger „ich“. Denn auch dem rauesten Seebären ist klar, dass er ohne loyale Crew im Hintergrund kein Schiff sicher in den nächsten Hafen steuern kann. Daher ist es gerade in stürmischen Zeiten von entscheidender Bedeutung, dass man als vorbildliche Führungspersönlichkeit sein Team bedingungslos hinter sich versammelt – komme, was wolle.
„An keinem anderen Ort der Welt kommt man sich so klein und unbedeutend vor wie auf dem Nordatlantik im Sturm.“
Die Geschichten vieler Kapitäne handeln häufig von dramatischsten Ereignissen zwischen Leben und Tod. Von wilden Stürmen, von Monsterwellen, von Piraten, von Problemen mit der Fracht, doch den meisten Seeleuten, mit denen ich sprach, war eines extrem wichtig: auf keinen Fall sollte die Story angeberisch klingen.
Mit hanseatischer Attitüde allein kommt natürlich niemand durch den Sturm. Elementar wichtig ist der technische Zustand des Schiffes – und deshalb sind die meisten Kapitäne, die ich kenne, Pedanten zur See. Das Schiff muss intakt und gut gepflegt sein, vor allem die Maschine. Aber es geht um Details. Egal, ob ich mit ihnen an Bord eines Kreuzfahrtschiffs ging, auf eine Fähre, einen Frachter oder zur Ausflugsfahrt auf die Elbe. Als Erstes inspizierten sie den Zustand der Rettungsboote. Sie sahen nach, ob die Davits geschmiert waren. Sie prüften, ob die Rettungswege frei waren. Sie maulten, wenn jemand die Sicherheitshinweise ignorierte.
Katastrophen haben nicht nur einen Grund
Als ich mit Kapitän Jürgen Schwandt auf einem Kreuzfahrtschiff unterwegs war, regte er sich darüber auf, dass der Sicherheitsoffizier sein Haar lang und das Hemd aus der Hose trug. Ein Ein anderes Mal beschwerte er sich über eine Topfpflanze im Fluchtweg. Das könne nicht angehen! Er verlangte sofort, den Diensthabenden zu sprechen und fragte ihn, ob er sich im Notfall wirklich um den Gummibaum kümmern wolle? Die Topfpflanze war kurz darauf verschwunden. Hinter der vermeintlichen Pedanterie steckt ein simpler Gedanke. Katastrophen haben in der Regel nicht einen Grund, sondern sind die Summe vieler kleiner Fehler. Stellt man also kleine Fehler ab, ist es weniger wahrscheinlich, dass es zu großen Versäumnissen kommt. Und in dieser Sicht auf die Dinge fängt ein kleines Problem schon damit an, dass ein Sicherheitsoffizier nicht darauf achtet, ob sein Hemd in der Hose steckt.
„Mit einer funktionierenden Crew und einem starken Schiff komme ich überall durch. Da muss man sich keine Sorgen machen“, sagte mir Johannes Hritz, Trawlerkapitän aus Bremerhaven. In seinem Arbeitsalltag auf dem Nordatlantik hat er es bisweilen mit Wellen in Höhe siebenstöckiger Häuser zu tun. Kein Problem, wenn alle richtig zusammenarbeiten und aufpassen.
„Mit einer funktionierenden Crew und einem starken Schiff komme ich überall durch.“
Hritz sagte mir, dass er daher gerne mit ihm vertrauten Seeleuten zusammenarbeitet. Er achte darauf, dass respektvoller Umgang an Bord herrsche. Widerstandsfähigkeit gehört zum Beruf – und eine gewisse Härte. Bei Verdacht auf einen Herzinfarkt, bei Knochenbrüchen oder Nierenkoliken steuert er einen Hafen an. Aber bei, sagen wir: Schnittwunden? Können immer mal passieren. „Für diese Fälle haben wir einen Tacker an Bord“, meint er. Ich stelle mir vor, wie eine solche Aussage bei einem beliebigen Job an Land ankäme.
Was mir an der Haltung der alten Kapitäne auch gefällt, ist gelebter Pragmatismus. Sie fahren einen Kurs, sie haben einen Plan. Wenn es allerdings nötig ist, ändern sie ihn eben ab, damit es passt. Das macht Kapitäne zu echten Resilienz-Profis – wenngleich sie freilich mit diesem Begriff kaum etwas anfangen können.
Ich erinnere die Geschichte eines Seemanns aus Hamburg, der in einem schweren Orkan auf der Biskaya einem Motorschiff aus Dänemark nach einem „Mayday“ zu Hilfe kam. Das andere Schiff meldete Maschinenprobleme und einen Wassereinbruch. „Please pick me up, Sir“, flehte der Kapitänskollege über Funk. Was im enormen Wellengang aber nahezu unmöglich erschien. Die dänische Crew stieg schließlich in ein aufblasbares Rettungsfloß, das der Sturm schnell forttrieb. Als er feststellte, dass eine Leinenverbindung mit dem Floß anders nicht herzustellen war, legte Kapitän Peter Steffens im entscheidenden Moment den Rückwärtsgang ein. Rückwärts mit einem Frachter - im Orkan? Unkonventionell, aber erfolgreich. Ein Manöver, für das ihn einige Kapitänskollegen sicherlich kritisierten, meinte Steffens. Na und? Die dänische Besatzung war in Sicherheit. Steffens und seine Crew konnten die Schiffbrüchigen an der Bordwand hochziehen.
Den nächsten Hafen zu erreichen, das hat für alle Kapitäne oberste Priorität. Ebenso aber die Sicherheit der Crew. Für die meisten Kapitäne ist der Gedanke, einen Mann auf See zu verlieren, unerträglich. Wenn es passiert, beschäftigt sie es noch Jahrzehnte später.
Auch Kapitän Feith, mit dem diese Geschichte begann, schaffte es durch den Jahrhundertsturm. Trotz eines Maschinenausfalls. Trotz eines Wassereinbruchs unterhalb der Wasserlinie, den die Pumpen gerade so in Schach hielten. Als er mit seinem Frachter in Liverpool ankam, hatte der wütende Ozean alle Farbe vom Schiff geschlagen. An vielen Stellen blitzte der nackte Stahl durch, und die Ladung – T-Träger für einen Hochhausbau – waren nur noch als Schrott zu gebrauchen, denn das Salzwasser würde das Baumaterial rosten lassen. Stahl mag härter sein als Seeleute, aber nicht resilienter …
Doch das Wichtigste war: Sie hatten überlebt.
Kurs Richtung Resilienz
Mehr als 80 Prozent des Welthandels wird über den Seeweg abgewickelt. Entsprechend ist die Resilienz der Flotten ein mitentscheidendes Bindeglied, um ein Reißen strapazierter Lieferketten zu verhindern. Der UN-Report Maritime Transport 2022 zeigt Schwachstellen auf.
- Die internationale Seeflotte ist in die Jahre gekommen. Das aktuelle Durchschnittsalter aller Frachtschiffe, die auf den Weltmeeren unterwegs sind, beträgt fast 22 Jahre. Setzt man das Alter in Relation zur Ladungskapazität sinkt der Durchschnittswert immerhin auf 11,5 Jahre, das heißt, große „Pötte“ sind im Schnitt jünger als kleine. Aber das ist kein Grund zur Entwarnung, denn viele Reedereien scheuen Investitionen wegen der Unsicherheit über technologische Entwicklungen, sich häufig ändernden Umweltvorgaben, steigenden Kreditkosten und den eingetrübten Wirtschaftsaussichten.
- Trotz neuer Technologien sind die CO2-Emissionen der weltweiten Seeflotte zwischen 2020 und 2021 um 4,7 Prozent gestiegen. Den größten Anteil daran haben Container-, Schüttgut- und Stückgutschiffe. Die Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) fordert mehr Investitionen, um den CO2-Fußabdruck des Seeverkehrs zu verringern.
- Zwischen 1996 und 2022 steigerten die Top-20-Carrier ihren Anteil an der Containerbeförderungskapazität von 48 auf 91 Prozent. Die vier größten Containerschiffreedereien haben ihre Marktanteile in den vergangen fünf Jahren nochmals drastisch ausgebaut, um mehr als die Hälfte der globalen Kapazität zu kontrollieren. Die Top-4-Carrier verfügen über eine Marktmacht von 58 Prozent. Das kann zu Marktmachtmissbrauch und höheren Tarifen und Preisen für die Verbraucher führen.
- Die Überdimensionierung von Schiffen gibt ebenfalls Anlass zur Sorge. Zwischen 2006 und 2022 hat sich die Größe der größten Containerschiffe der Welt von 9.380 TEU (Standardcontainer) auf 23.992 TEU mehr als verdoppelt. Das stellt nicht nur einige Häfen und Seestraßen vor Probleme, die Größe der Schiffe wuchs auch schneller als die Frachtmengen, die sie füllten. Die dadurch angestoßene Marktkonsolidierung kann ebenfalls zu enem eingeschränktem Angebot und höheren Tarifen und Preisen für die Verbraucher führen.
- Steigende Frachtpreise belasten die Volkswirtschaften ärmerer Länder deutlich mehr als die in Ländern mit mittleren und hohen Einkommen.
- Für 2022 prognostiziert die UNCTAD ein moderates Wachstum des globalen Seehandels auf 1,4 Prozent. Und für den Zeitraum 2023 bis 2027 wird ein jährliches Wachstum von durchschnittlich 2,1 Prozent erwartet, eine langsamere Rate als der Durchschnitt der letzten drei Jahrzehnte von 3,3 Prozent.