Ordnung muss sein
Als die Hamburger Speicherstadt 1888 eingeweiht wurde, war sie der größte und modernste Lagerhauskomplex der Welt. 300.000 Quadratmeter Lagerfläche bot das Areal – 42 Fußballfelder. Nicht nur die Größe beeindruckte, sondern auch die Bauzeit: In weniger als fünf Jahren war der Abschnitt fertig. Zur Eröffnung durch Kaiser Wilhelm II. bekamen die Hamburgerinnen und Hamburger einen arbeitsfreien „Kaisertag“.
1888 konnte niemand ahnen, dass die Speicherstadt eines Tages UNESCO-Weltkulturerbe und damit ein Besuchermagnet sein würde. Ob heutige Rekordlagerhäuser eines Tages auch in die ehrwürdige Liste aufgenommen werden, ist fraglich, aber nicht ausgeschlossen. Beeindruckend sind die Riesenregale allemal.
Doch bleiben wir im Hier und Jetzt. Laut einer Studie von Straight Research soll sich der Markt in diesem Bereich von global 648,35 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 bis 2030 auf 1.264,01 Milliarden US-Dollar annähernd verdoppeln. „Einen wesentlichen Treiber hierfür stellt das sich weiterhin stark entwickelnde E-Commerce-Geschäft und die damit verbundenen Veränderungen der Lieferketten dar“, sagt Alexander Krooß vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund.
9.200
Paletten finden in einem Hochregallager bei Würzburg Platz. Das Besondere: Die 77 Meter lange, 32 Meter breite und 30 Meter hohe Anlage ist aus Holz gebaut.
So wundert es auch nicht, dass das aktuell weltweit größte Hightech-Lagerhaus vom E-Commerce-Riesen Amazon betrieben wird. Die Ausmaße sind wahrlich beeindruckend: Das MQY1 Fulfilment Centre im US-Bundesstaat Tennessee ist mit 334.450 Quadratmetern genauso groß wie die gesamte Speicherstadt in Hamburg. Aber auch der Blick ins Innere bietet Erstaunliches: Hier geht es ähnlich wuselig zu wie einst in und zwischen den Kontorhäusern in Hamburg – nur dass neben 3.000 Menschen und insgesamt 20 Kilometer langen Förderbändern auch Hunderte von Robotern mitwuseln. Sie sollen unter anderem die menschlichen Kollegen von schweren Hebe- und Transportaufgaben befreien, die in älteren Amazon-Lagern dazu führten, dass das dortige Verletzungsrisiko doppelt so hoch war wie in Lagerhäusern anderer Anbieter.
Auf fünf Stockwerken, jedes so groß wie ein Dutzend Fußballfelder, lagern Millionen von Artikeln mit der maximalen Größe von 45 mal 45 Zentimetern. Verstaut sind sie in 40.000 Kisten, die wiederum in fahrbaren Regalen stehen. Flache Fahrroboter nehmen die rund drei Meter hohen Regale huckepack und bringen sie zu den Sortierstationen, an denen sie be- und entladen werden. Gepackt werden die Kisten nicht etwa nach Themengebieten. Es hat sich gezeigt, dass eine zufällige Verstauung effizienter ist. Und so gehen Speicherkarten ganz selbstverständlich mit Angelzubehör und Kinderspielzeug in die Kiste.
Während das Mega-Lager von Amazon einer klassischen Regalbestückung von der Seite folgt, stellen immer mehr Unternehmen dieses Konzept auf den Kopf. Statt mit automatisierten Fahrzeugen Paletten vom Boden aus in die Höhe zu hieven, sind moderne Layouts so angeordnet, dass die Regalschächte von oben befüllt werden – allerdings meist nicht mit Paletten, sondern mit Boxen.
Im Prinzip lagern die Waren in solchen „Cube Storage“ genannten Anlagen wie in einem Bierkasten, allerdings stecken zig Flaschen übereinander. Wie auf einem Schachbrettmuster fahren Lagerroboter die Raster ab und schnappen sich die Boxen in den Schächten mit ihren Greifern. Mithilfe einer künstlichen Intelligenz sortieren die Anlagen die Waren und Kisten so, dass Wege und damit Zeiten optimiert werden – oft gebrauchte Boxen lagern weiter oben. „Mithilfe mathematischer Optimierungen sowie auf KI basierenden Algorithmen können die Anlagen ihre Effizienz steigern, indem sie etwa Waren und Boxen so umlagern, dass Wegzeiten der Roboter optimiert werden“, sagt Fraunhofer-Experte Krooß.
So profitiert der stationäre Handel von Hightech-Lagerhäusern
Einer der Hersteller solcher Cube-Lagersysteme ist das Unternehmen AutoStore. Laut eigenen Angaben sind die Norweger weltweit aktiv und verfügen über mehr als 1.000 Systeme in über 45 Ländern. Ein zukunftsweisendes Beispiel ist die Filiale des Sportartikelhändlers Decathlon im kanadischen Calgary. Das Lagerhaus dient gleichzeitig als Lager für den Shop und als Vertriebszentrum für den Onlinehandel in der Region. Im Shop finden Kunden Ausrüstung für rund 65 Sportarten. Möchte ein Kunde ein Produkt an- oder ausprobieren, so dauert es höchstens drei Minuten, bis die Roboter es aus dem Lager geholt und direkt an die Umkleidekabine geliefert haben. Weiterer Vorteil für die Kunden: Im Vergleich zu anderen Standorten bietet der Shop ein fast doppelt so großes Sortiment, 145.000 statt der üblichen 70.000 bis 90.000 Artikel. „Das Ziel von Decathlon war es, in diesem Store ein einzigartiges neues und besseres Kundenerlebnis zu schaffen“, sagt Diba Aleagha, Operations- und E-Commerce-Managerin bei Decathlon Canada. So helfen Hightech-Lagerhäuser dem stationären Handel, resilienter zu werden im Wettbewerb mit Online-Versendern.
Flexibel an wechselnde Anforderungen anpassen
Weitere Vorteile solcher Systeme liegen einerseits in der besseren Flächennutzung, laut AutoStore bis zum Faktor 4, andererseits können modular angelegte Warenhäuser im laufenden Betrieb erweitert werden. Das Lager wächst mit dem Unternehmen mit – ein Trendthema in der Logistik. Mitwachsende Lagerhäuser wiederum helfen, neue Märkte zu erschließen. Das betrifft etwa das E-Commerce, wo es regelmäßig gilt, auf saisonale Schwankungen besser zu reagieren. Wenn etwa im Weihnachtsgeschäft der Laden brummt, können mehr Roboterfahrzeuge eingesetzt werden.
Eine besondere Herausforderung im Bereich automatisierter Lagerhäuser stellt E-Grocery dar. Der elektronische Handel von Lebensmitteln hat sich nicht zuletzt durch Corona fest etabliert, sei es in Form von Click & Collect oder Hauszustellung. Die Warenkörbe von Endkunden sind dabei eine bunte Mischung unterschiedlichster Produktgruppen. Die Anforderung an eine intelligente Kommissionierung sind komplexer als bei einem Händler mit thematisch begrenzterem Sortiment. Denn Tiefkühlkost folgt anderen Logistikketten als Wein, Avocados anderen als Käse und Shampoos anderen als Frischfleisch. Daher sind gerade im E-Grocercy modular aufgebaute Systeme gefragt, die sich agil an wechselnde Anforderungen anpassen und sich über eine Schnittstelle verbinden lassen – damit das Frischfleisch aus der Kühlung in dieselbe Kundensendung kommen kann wie das Mehl aus dem Trockenlager und die Servietten aus dem Standardsortiment.
Saus und Braus in Dunkelheit
Ein weiteres Trendthema sind autonom umherfahrende Roboter, die Waren dank künstlicher Intelligenz selbstständig bewegen und sich sogar zu Schwärmen zusammenbinden, wenn die Last für einen einzelnen Fahrroboter zu schwer oder zu sperrig ist (siehe auch Schaeffler-Infokasten unten). Im Projekt LoadRunner zeigen die Fraunhofer-Forschenden in Dortmund, was möglich ist: „Der LoadRunner vereint die Vorteile von leistungsfähiger Sortier- und Fördertechnik mit der hohen Flexibilität und Skalierbarkeit autonomer Roboterschwärme. Er baut damit auf der Zukunftsvision einer infrastrukturreduzierten Logistik auf, einer Voraussetzung, um flexibel auf die hohe Dynamik der heutigen Logistik reagieren zu können“, sagt Krooß.
Solche KI-gesteuerten Roboter sind ein weiterer Baustein hin zu den sogenannten „Lights-out Warehouses“ oder auch „Dark Stores“, also dunklen Lagerhallen. Die wegfallende Beleuchtung dient nicht vorranging der Nachhaltigkeit, sondern verweist vielmehr auf einen hundertprozentigen Automatisierungsgrad. Denn anders als Menschen brauchen Maschinen kein Licht, um schnell und präzise zu sortieren und zu transportieren.
Dass bei solchen Hightech-Lagern nicht zwangsläufig in riesigen Dimensionen gedacht werden muss, zeigt ein Blick in die Schweiz. Dort errichtet der Intralogistikexperte Jungheinrich für ein mittelständisches Handelsunternehmen in der Elektro- und Lichtbranche auf nur 400 Quadratmetern einen sogenannten PowerCube. Die Lagerkapazität in dem knapp über zehn Meter hohen Würfel mit 25 Ebenen beträgt 18.000 Behälter mit jeweils bis zu 50 Kilo Zuladung. Für den Warentransport sorgen kleine E-Shuttles, die unter den Regalen hin und her fahren. Das Start-up Noyes bietet sogar vollautomatische Lager zwischen 10 und 250 Quadratmeter Fläche an. Auch hier erlaubt ein modularer Aufbau, dass sie in den laufenden Betrieb integriert oder erweitert werden können – auf Wunsch auch mit Kühlung.
Digitales Gerüst
Dass der Warenstrom in Hightech-Lagern einen entsprechend leistungsstarken Datenstrom braucht, versteht sich angesichts des hohen Automatisierungsgrades von selbst. „Heutzutage hat jedes Lager- oder Logistikzentrum mit Big Data zu tun“, schreibt der Lagerhaus-Spezialist Mecalux in einem Blog-Beitrag. „Dabei geht es um die Verarbeitung einer unfassbar großen Menge an Informationen. Eine Distributionskette ohne eine entsprechende Lagerverwaltungssoftware ist faktisch undenkbar.“ Die umfangreichen Big-Data-Sammlungen sollen aber nicht nur helfen, den Warenfluss zu dokumentieren und zu leiten. Die in den Logistikhallen durch die erfassten Warenbewegungen stetig und üppig sprudelnde Datenquelle ist für jedes Unternehmen ein enorm wertvolles Planungstool, um proaktiv auf Marktbewegungen reagieren zu können. Über das Tagesgeschäft hinaus hilft die digitale Informationsflut auch, bestehende Lager inklusive Fördertechnik und Warenfluss mithilfe von Simulationstechniken zu optimieren oder maßgeschneiderte Neubauten schnell und kostenoptimiert zu errichten.
Fünf Jahre Bauzeit, wie vor über 100 Jahren bei der Hamburger Speicherstadt, das kann sich heute kein Unternehmen mehr leisten. Das ähnlich große Amazon-Riesenlager in Tennessee war nach knapp einem Jahr Bauzeit einsatzbereit.
Fleißige Flitzer
Immer mehr Automated Guided Vehicles – kurz AGVs – transportieren in den Fluren der Produktionswerke von Schaeffler führerlos Material und Güter an ihren Bestimmungsort. Aktuell sind 100 der fleißigen Flitzer weltweit in den Produktionsstätten des Konzerns im Einsatz – ein Topwert in der Branche. „Unser Ziel ist es, 500 AGV-Anwendungen weltweit bis 2025 zu implementieren und dadurch jährlich 25 Millionen Euro einzusparen“, sagt Thomas Krämer, Leiter Advanced Production Technology. Unter AGVs versteht man flurgebundene Fahrzeuge, deren Einsatz sich auf innerbetriebliche Aufgaben konzentriert und die eine kontinuierliche, bedarfsorientierte und flexiblere Versorgung der Produktion ermöglichen. „Der Einsatz von AGVs als Transportsystem bietet enorme Vorteile: Neben einer Optimierung unserer internen Materialflüsse durch intelligent gesteuerte Fahrzeugflotten sind insbesondere auch die Erhöhung der Arbeitssicherheit, eine bessere Transparenz innerhalb des Bestands sowie eine hohe Verfügbarkeit und Produktivitätssteigerungen durch einen 24-Stunden-Betrieb zu nennen“, betont Sebastian Hirschmann, Projektleiter AGV bei Schaeffler. „Ebenso lassen sich die Systeme auf den zunehmenden Automatisierungsgrad in der Schaeffler-Produktion dynamisch, flexibel und skalierbar anpassen.“
Kern des Materialflusses: das Flottenmanagementsystem
Alle AGVs an einem Standort sind über ein Flottenmanagement miteinander vernetzt und kommunizieren untereinander. Das Gesamtsystem besteht aus der eigentlichen Fahrzeugflotte, einer Leitsteuerung als Mittel zur Standortbestimmung und Lageerfassung, einer Einrichtung zur Datenübertragung sowie Peripherie wie zum Beispiel Ladestationen. Die zurückgelegten Strecken der AGVs reichen von circa 250 Metern pro Zyklus in der Kettenfertigung Bühl bis zu 1,6 Kilometern in Skalica, wo ein Routenzug-AGV eingesetzt wird.
Neben AGVs sollen zukünftig bei Schaeffler auch noch flexibler einsetzbare mobile Cobots zum Einsatz kommen. Einen Ausblick auf eine solche fahrbare Roboterplattform gibt das Projekt DEX, das am Schaeffler Hub for Advanced Research an der Technischen Universität Nanyang in Singapur (NTU) in enger Zusammenarbeit mit der Orcadesign Consultants Pte. Ltd. entwickelt wurde. Das Projekt soll Funktionalität mit intelligentem sozialen Verhalten verbinden und die Produktivität im industriellen Umfeld für eine Vielzahl von Aufgaben unterstützen und steigern.