Quo vadis, Robotik?
Robotik wird die Welt verändern! Insbesondere im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz (KI) wird sie die nächsten 50 bis 100 Jahre ähnlich stark prägen, wie die Entstehung der Computertechnologie, des Internets und des Smartphones das Leben im letzten halben Jahrhundert beeinflusst haben. In unterschiedlichen Formen werden intelligente Automatisierungslösungen unsere Lebenswelt durchdringen und – wenn die Menschheit sie richtig einsetzt – umfassend bereichern. In dieser Welt werden unsere Enkelkinder als erste Generation ‚R‘ von Robotic Natives aufwachsen – umgeben von autonomen, intelligenten Assistenten, die sie sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld unterstützen. Doch wie genau wird diese Welt von morgen aussehen? Welche Form werden die Fertigungs-, Service-, Entertainment- und Haushaltsroboter annehmen? Wird es sich – ähnlich den Anfängen der Computertechnologie – weiterhin um große, hochspezialisierte, stationäre Automatisierungslösungen handeln, oder werden „Roboter-Lehrling“ und „Roboter-Haushälterin“ bald in großer Breite Realität?
Der Autor
Dominik Bösl ist technologieverliebter Geek, Informatik-Professor, Zukunftsforscher, zweifacher Vater und glaubt, dass Technologie tatsächlich die Welt lebenswerter machen kann – wenn wir es richtig anstellen! Das „Wie“ erforscht er u. a. für die UN, die Europäische Kommission und die Regierung. Sein Herz schlägt für Technologie-Ethik und das Sammeln von Iron-Man-Action-Figuren – beste Grundvoraussetzungen also, über humanoide Roboter zu schreiben, denn er wäre selbst der erste Kunde.
Robotic Revolutions
Auf ihrem Siegeszug hat die Computertechnologie vier Evolutionsphasen durchlaufen: Riesige, raumfüllende Mainframe-Computer schafften durch Miniaturisierung von entscheidenden Komponenten den Sprung auf den Schreibtisch und wurden als Desktop-Computer für die Allgemeinheit verfügbar. Dank daraus resultierender fallender Preise und fortgesetzter Verkleinerung entwickelten sie sich zu mobilen Systemen, den Laptops und Notebooks. Als Smartphones und Tablets hielten sie allgegenwärtigen Einzug in die menschliche Lebenswelt. Und heute ist unser Leben durchdrungen von – meist gar nicht mehr sichtbaren – digitalen Systemen und Services.
Die vier „Robotic Revolutions"
Die Robotik entwickelt sich sehr analog in vier disruptiven Phasen, auch „Robotic Revolutions“ genannt. In der ersten Phase entstand die klassische Industrie- und Fertigungsrobotik, wie sie seit mehreren Jahrzehnten etwa aus der Automobilindustrie wohlbekannt ist. Diese hocheffizienten, aber potenziell gefährlichen Maschinen konnten nur hinter Schutzzäunen – gleich einem „Roboterzoo“ – eingesetzt werden. In der zweiten Phase wurden die Roboter aus dem Käfig befreit und können heute als sichere, sensitive Cobots direkt mit den Menschen interagieren. Die dritte Revolution umfasst die Mobilisierung der Systeme: Nicht mehr das Werkstück kommt zum Roboter, sondern die Maschine bewegt sich zum Einsatzort – eine wichtige Grundvoraussetzung für flexible, adaptive Service-Robotik. Die vierte und höchste Evolutionsstufe entsteht aktuell durch das Zusammenwirken von Robotik und künstlicher Intelligenz. Denn erst wenn diese sicheren, mobilen Systeme auch autonom und „intelligent“ werden, können sie proaktiv bei unterschiedlichsten Aufgaben in Produktion und Alltag unterstützen. Dieser letzte und entscheidende Schritt ist die nötige Basis, damit Science-Fiction Wirklichkeit werden kann.
Potenzial von Beinen
Welche Rolle spielen nun Beine für die Robotik von morgen? Als das Leben das Wasser verließ, war die Fähigkeit zu kriechen, zu robben, zu hüpfen und später zu laufen essenziell, um neue Lebensräume zu erobern. Die Primaten – und schlussendlich auch der Mensch – erwiesen sich dabei als besonders anpassungsfähig. Nicht, weil die Humanoiden am besten an eine Umgebung oder einen Lebensraum angepasst gewesen wären, sondern weil es ihnen genau daran mangelte: Menschen können nichts besonders gut – dafür aber alles gut genug, um sich sehr schnell an neue Bedingungen anzupassen. Der aufrechte, zweibeinige Gang ist eine der Schlüsselfähigkeiten, die das Modell „Mensch“ so erfolgreich gemacht haben: Freie Hände ermöglichen die Nutzung von Werkzeugen und die Fortbewegung in unterschiedlichsten Terrains. Es liegt also vermeintlich nahe, bei der Mobilisierung von (Service-)Robotern auch auf Beine zu setzen und Maschinen nach unserem Ebenbild zu schaffen. Insbesondere in unstrukturierten, sich verändernden Umgebungen – beispielsweise in Büros, im Einzelhandel und im Haushaltsbereich – sind Beine eine Notwendigkeit. Der zweibeinige Gang birgt jedoch auch Nachteile: Hohe Rechenleistung muss für das ständige Ausbalancieren der Systeme aufgewendet werden, da sie nicht von selbst aufrecht stehen können, und auch der reguläre Bewegungsablauf erfordert mehr Energie, als es etwa bei einem System mit Rädern der Fäll wäre. Gleiches gilt für den Einsatz humanoider Roboter: Der Zugewinn an Flexibilität steht einem Verlust an Effizienz und Effektivität gegenüber.
Historie von Bipeden
Der Wunsch nach künstlichen, menschen- oder tierähnlichen Helfern ist Jahrtausende alt. Bereits aus dem alten Ägypten und Griechenland ist belegt, dass findige Ingenieure sogenannte „Automata“ in Form von Götterfiguren konstruierten, die nach Einwurf einer Münze kleine Gegenstände in Tempeln an Gläubige verteilten. Der aus der jüdischen Mythologie bekannte Golem war eine aus Lehm geschaffene Gestalt, die seinem Herrn Dienste leistete. Leonardo da Vinci versuchte, seinem mechanischen Löwen anatomisch korrekte Bewegungen zu verleihen, und somit ein künstliches Lebewesen zu erschaffen. Mit anderen, meist auch sehr zweifelhaften, wenig wissenschaftlichen Mitteln folgten die Alchemisten des Mittelalters derselben Idee auf ihrer Mission „homunculi“ – im Labor gezüchtete, menschenähnliche Gestalten – als Diener zu erschaffen. Selbst der heutige Begriff des Roboters entspringt dieser Idee. Der Autor Karel Čapek beschrieb 1920 in seinem Drama „R.U.R. – Rossum’s Universal Robots“ artifizielle Menschen. Heute würde man wahrscheinlich von Androiden sprechen, die als billige und rechtlose Arbeitskräfte Frondienste verrichten. Alle eint jedoch eine Eigenschaft: Sie versuchten, Wesen mit Beinen zu kreieren, die sich in der menschlichen Umwelt „normal“ bewegen sollten.
Motivation für humanoide Roboter
Wirft man einen Blick in die Medien, so finden sich in den letzten Wochen und Monaten gehäuft Berichte über den (vermeintlich) baldigen Einsatz humanoider Roboter in der industriellen Fertigung. Auch die International Federation of Robotics (IFR) benennt in ihrer aktuellen Prognose für den Robotermarkt die Androiden als prägenden Technologietrend für das Jahr 2024. Firmen wie Daimler, BMW und Tesla sprechen öffentlich über entsprechende Feldversuche, Technologie-Kooperationen oder gar Eigenentwicklungen. Diese Berichte erwecken zum einen Hoffnung auf eine baldige flächendeckende Einführung von humanoiden Robotern; zum anderen unterstreichen sie das drängende, ursächliche Problem: den Fachkräftemangel. Der Volkswagenkonzern prognostiziert, dass bis zum Jahr 2035 15 Prozent der aktuellen Belegschaft in den Ruhestand gehen wird – und dass diese auf dem globalen Arbeitsmarkt nicht mehr zu finden sein werden. Auch die Vereinten Nationen und die OECD sagen vorher, dass spätestens in den 2050er-Jahren ein globaler Arbeitskräftemangel vorherrschen wird, der sich nur durch den flächendeckenden Einsatz von flexiblen, autonomen Automatisierungstechnologien kompensieren lassen wird. Mittlerweile ist klar: Wir müssen automatisieren!
Humanoide Systeme bergen nun das Potenzial, Bereiche der Produktion und des alltäglichen Lebens zu automatisieren, die früher als nicht automatisierbar galten: Anwendungsfelder mit hoher Komplexität und kleinen Losgrößen, zu niedriger Effizienz für stationäre Automatisierungslösungen oder Bereiche mit sich schnell verändernden Umgebungsbedingungen.
18
Jahre alt ist der humanoide Roboter Justin (u.) des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt gerade geworden. Anfangs nur ein Torso, besitzt Justin heute sensorische und motorische Fähigkeiten, die denen des Menschen zumindest nahekommen. Gerade in jüngster Vergangenheit hat er seine größten Entwicklungsschritte gemacht – dank KI.
Stand der Technik
Die Forschung beschäftigt sich schon lange mit der Konstruktion von zwei- und mehrbeinigen Robotern. Jede größere, mit Maschinenbau und Mechatronik befasste Universität widmet sich mindestens einem der Aspekte, die für den Bau von Humanoiden nötig ist. Insbesondere am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), im Robotik-Schwerpunktbereich des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), den verschiedenen Fraunhofer Instituten und an der TU München versucht man seit jeher, Spülmaschinen von Haushaltsrobotern beladen zu lassen, leichte Aktuatoren für Roboter-Beine und -Arme zu entwerfen, die Roboter zum Schutz des Menschen mit sensitiven Sensorhäuten zu beschichten oder Roboter fit für den Einsatz in Haushalt und Pflege zu machen. Die Liste der internationalen Wissenschaftseinrichtungen wäre noch länger und umfasst neben der Stanford University, dem MIT, der University of Washington und der Georgia Tech University auch die führenden Institute in Italien, Frankreich und Japan. Einige der bekanntesten Demonstratoren und Konzepte stammen aus diesen Schmiede: Boston Dynamics setzt mit Atlas sicher seit Jahren den Standard für zweibeinige Roboter und die Videos, auf denen der Android Salti schlägt, durch einen Parcours turnt oder sich einem Tänzchen hingibt, sind den meisten Menschen aus dem Internet wohlbekannt.
„Maschinen, denen Aufgaben bestenfalls nur gezeigt oder erklärt werden müssen und die sich frei in der Fertigung bewegen können, sind der Traum vieler Unternehmen.“
Aber auch diese Humanoiden sind bei Weitem noch nicht so autonom, wie wir es uns für den Einsatz zu Hause als Roboter-Haushälterin oder Roboter-Butler gerne wünschen würden. Was hat sich also nun– über den sich abzeichnenden Fachkräftemangel hinaus – gewandelt, dass Weltkonzerne wie BMW, Tesla und Daimler öffentlich über den Einsatz humanoider Maschinen sprechen? Einen maßgeblichen Teil dazu haben sicher die disruptiven Veränderungen im Bereich der künstlichen Intelligenz beigetragen. Die rasante Entwicklung von Technologien wie ChatGPT und Co. haben die Hoffnung auf schnelle Fortschritte im Bereich autonomer, reaktiver und „intelligenter“ Systeme neu entfacht. Hersteller erster Systeme, wie Apptronik, Unitree, Agility Robotics, Figure 01 oder NEO gehen Kooperationen mit namhaften Kunden ein, um die Technologiereife unter realitätsnahen Bedingungen zu erproben.
So großartig und beeindruckend diese Technologiedemonstratoren auch sein mögen, eines sind sie nicht: Produkte. Und schon gar nicht industriell oder gar prozesssicher einsetzbar. Lange Zeit war die Anzahl der Systeme auch sehr überschaubar, denn sie sind teuer im Aufbau, wartungsintensiv, eingeschränkt in ihrer Funktionalität und können mit einer Batterieladung nur wenige Minuten betrieben werden. Es erscheint geradezu grotesk, dass die lustig und atemberaubend anmutenden Demonstrationsvideos genau das wesentliche nicht zeigen: die fünf bis neun Wissenschaftlerinnen und Ingenieure, die im Hintergrund das System fernsteuern, Parameter manuell anpassen oder bereitstehen, um das System bei nachlassender Energieversorgung aufzufangen.
Keine Angst vor der Robokalypse
Eines steht dennoch fest: Die Verheißung flexibel einsetzbarer, autonomer Roboter-Arbeitskräfte ist verlockend. Maschinen, denen Aufgaben bestenfalls nur gezeigt oder erklärt werden müssen und die sich – genau wie die menschlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – frei in der Fertigung bewegen können, sind der Traum vieler Unternehmen. Mechanisch hat sich in den letzten 35 Jahren viel auf diesem Gebiet getan – wenn nicht die bekannten Probleme auch weiterhin bestünden: mangelnde Energiedichte für Speichertechnologien, mangelndes Traglast-Nutzlastverhältnis bei Aktuatoren (der menschliche Arm kann ein Vielfaches seines eigenen Gewichts heben und tragen, die Robotik kämpft immer noch mit einem Verhältnis von 2:1) und fehlende kognitive Fähigkeiten. Erst wenn diese Probleme ausreichend gelöst sind und die KI weit genug fortgeschritten ist, um etwa ein bis dato unbekanntes Objekt erkennen, „verstehen“ und dann entsprechend greifen, handhaben und ablegen zu können, rückt die erhoffte „General Purpose Robotic“ in greifbare Nähe.
Die gute Nachricht? Wir alle brauchen aktuell (und auch im nächsten halben Jahrhundert!) keine Angst vor der „Robokalypse“ – also dem Roboteraufstand – zu haben. Der Wandel wird passieren, die Automatisierung der Welt wird voranschreiten. Aber es wird schleichend und stetig geschehen, ähnlich der Entwicklung autonomer Fahrzeuge. Zuerst werden die Oberklassemodelle der Hersteller mit immer intelligenteren und autonomeren Assistenten ausgestattet; dann wandern die Technologien in die günstigeren Segmente. Und eines Tages wird auch das autonome Fahren „da“ sein – aber eben nicht als Revolution über Nacht, sondern als Evolution über Jahre hinweg. Gleiches gilt für KI und die autonome, humanoide (Service-) Robotik. Leider bedeutet das aber auch, dass der Haushaltsroboter, der die Wäsche macht, aufräumt, putzt und kocht, ebenso auf sich warten lassen wird. Aber er wird kommen!
Künstliche Intelligenz und Robotik sind gekommen, um zu bleiben – wenn wir jetzt Verantwortung übernehmen, können wir diese Innovation gestalten und zu einer wertvollen, nachhaltigen Unterstützungstechnologie für die Menschheit ausbauen. Die Einführung der Waschmaschine hat bis zu 30 Prozent der menschlichen Zeit freigesetzt, die davor für den Haushalt gebunden war (natürlich ungleich verteilt auf Frauen und Männer) – die flächendeckende Etablierung von Automatisierungstechnologien wie künstlicher Intelligenz, Robotik, autonomem Fahren etc. wird eine ähnliche Auswirkung auf die Gesellschaft haben. Bleibt zu hoffen, dass sie zum Wohle und Wachstum der Menschheit Verwendung findet – und nicht für Katzenvideos aus dem Internet.