Rauf aufs Rad, raus aus dem Korsett
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Mai 2022

Rauf aufs Rad, raus aus dem Korsett

Von Björn Carstens
Das Fahrrad bewegt nicht nur von A nach B. Historisch gesehen hat es die Abhängigkeit der Frau reduziert wie kaum eine zweite technische Innovation. Zum Weltfahrradtag am 3. Juni blickt tomorrow zurück: So hat die Velo-Technologie die Welt ein Stück weit besser gemacht.

„Unschicklich“, „unsittlich“, einfach „flittchenhaft“ – im 19. Jahrhundert wehte fahrradfahrenden Frauen ein eisiger Wind entgegen. Sie konnten froh sein, wenn es bei Pöbeleien blieb. „Die Kutschenfahrer waren sich nicht zu schade, mich mit der Peitsche zu schlagen, und Taxifahrer fanden es lustig, mich von hinten anzufahren“, wusste Suffragette Helena Swanwick Ende des 19. Jahrhunderts zu berichten, nachzulesen in Hannah Ross' kürzlich erschienenem Buch „Revolutions – wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten“ (siehe Infokasten unten). Trotzdem fuhr die Londoner Frauenrechtlerin Swanwick unbeirrt weiter, weil „die Aktivität ihr Leben so ungemein bereichert hat“. Genau diesen Gewinn an Lebensqualität empfanden in der damaligen Epoche viele Frauen. Das Rad als Emanzipationsbooster!

„Das Fahrrad hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen.“

Rosa Mayreder (1858-1938), österreichische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin
Fahr Rad, gewinn Zeit

Mit dem Fahrrad fuhren Frauen symbolisch in die Freiheit, vergrößerten ihren Bewegungsradius, der bis dahin vor allem auf die Verpflichtungen an Haus und Hof beschränkt war. Frauen sparten Zeit mit dem Fahrrad, die sie nun für individuelle Bedürfnisse nutzen konnten, zum Beispiel für ihre Bildung. Nicht zuletzt war Radfahren aber auch ein Zeichen des Protests gegen die männliche Vormundschaft, ein Fahrrad zu besitzen. Denn dem Mann gefiel es oft so gar nicht, wenn sich die Frau ihrer häuslichen Fessel entledigt. Mann hatte Angst, dass Frau ihm wortwörtlich davonfährt.

Rauf aufs Rad, raus aus dem Korsett
1896: die Damen der Gesellschaft treffen sich mit ihrem Fahrrad im Londoner Hyde Park© Getty Images

Unglaublich, aber wahr: Dem damals vorherrschenden Patriarchat war kein Argument zu absurd, den Frauen das Zweirad madig zu machen. Das sogenannte Fahrrad-Gesicht wurde im späten 19. Jahrhundert als ernsthafte Bedrohung der weiblichen Gesundheit propagiert. Frauen, die zu lange auf dem Sattel säßen, müssten mit einer irreversiblen Verformung ihres Gesichts rechnen. Ross zitiert eine Ärztin, die von einer radelnden „Patientin“ erzählt: „Der Schleier, die Unerreichbarkeit, der subtile Ausdruck ihres Gesichts sind verschwunden; es ist nur mehr eine Oberfläche ohne Flair.“

Der Berliner Hochschulprofessor Dr. Martin Mendelsohn schreckte selbst vor anrüchigen Sexualtheorien nicht zurück. Aus heutiger Sicht geradezu grotesk – um die Jahrhundertwende aber ein ernstgemeintes Argument. Andere Zeiten!

Weltfahrradtag am 3. Juni


Der jährliche Weltfahrradtag am 3. Juni wurde am 12. April 2018 als ein offizieller UN-Tag des Bewusstseins über die gesellschaftlichen Vorteile der Fahrradnutzung festgelegt. Bereits seit 1998 findet der Europäische Tag des Fahrrad jährlich statt. Beide Tage sollen auf die zunehmende Belastung durch Automobilverkehr hinzuweisen und das Fahrrad mehr in den Fokus des täglichen Gebrauchs zu rücken.

Es waren aber auch Frauen selbst, die gegen Radfahrerinnen Stimmung machten. Im Jahr 1896 reichte etwa Charlotte Smith von der Women’s Rescue League eine Petition im amerikanischen Kongress ein, um Frauen das Radfahren zu verbieten. Als „Teufelsbraten“ verunglimpfte sie fahrradfahrende Geschlechtsgenossinnen. Es führe zum moralischen und religiösen Niedergang, wenn man das Radfahren weiterhin zulasse. Und noch abstruser: Radfahren mache anständige Frauen zu Prostituierten.

Solche und andere Anfeindungen bewirkten jedoch genau das Gegenteil ihrer Absicht: Viele Frauen wurden durch den in der breiten Öffentlichkeit ausgetragenen Diskurs auf die Idee gebracht, eine Identität als selbstbewusste Radlerinnen zu formen. Passend zur damals aktuellen politischen Strömung: „Die Entdeckung des Fahrrades für die Frau fiel mit der Emanzipationsgeschichte der Frauen zusammen“, sagt Dr. Gudrun Maierhof, Professorin für Methodenkompetenz und Geschichte der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences.

Widerstand und Rebellion

Auch in Deutschland sahen sich Frauen zunächst der Abneigung der Männerwelt ausgesetzt. Die Journalistin Amelie Rother wollte das nicht akzeptieren. Sie gehörte in Berlin zu den Radfahrerinnen der ersten Stunde, hatte genug vom Stubenhocker-Dasein der typischen Großstädterin und wurde so zu einer Ikone der Frauenmobilität. Begleitet von Gejohle und Geschimpfe fuhr sie mit ihrem Dreirad durch die Straßen der Hauptstadt und plädierte für eine praktischere Kleidung beim Pedalieren: „Das Erste, was unbedingt in die Rumpelkammer gehört, ist das Korsett. Wie soll der unglückliche Brustkorb sich weiten, wenn er in einem Stahlpanzer steckt!“

Rauf aufs Rad, raus aus dem Korsett
Eine Fotografie aus dem Jahr 1898: Die viktorianische Damenmode wurde durch die Einführung des Sicherheitsfahrrads revolutioniert. Radelnde Frauen trugen nun weite Pumphosen© Getty Images

Von Kopf bis Fuß war das Modediktat der damaligen Zeit hinderlich fürs Radeln. Die langen, mehrlagigen Röcke erschwerten sowohl das Auf- und Absteigen als auch das Fahren selbst. Folglich wurden die Röcke erst gekürzt und später durch bequemere Modelle ersetzt, unter denen die Frauen weite Radfahrer-Pumphosen trugen. Ross beschreibt in ihrem Buch, dass die Fahrradindustrie Stück für Stück bemerkte, dass jene neue Generation selbstbewusster Frauen entscheidend zu ihrem Umsatz beitrug.

Werbekampagnen wurden geschaltet, die starke Frauen in „Reformkleidung" feierten. Hannah Ross nennt ein markantes Beispiel: „Die Anzeigen für ‚Elliman’s Universal Embrocation Ointment', eine Muskelsalbe, zeigten athletische Frauen in Knickerbockern, die schamlos männliche Radfahrer hinter sich ließen; auf einer ist zu sehen, wie ein Mann stürzt, während eine Frau ihn überholt."

Die Geschichte des Radrennsports bei Frauen
Rauf aufs Rad, raus aus dem Korsett
Dieser Holzstich zeigt, dass es Radrennen mit weiblicher Begleitung bereits 1868 in Frankreich gegeben hat© Getty Images

Erstaunlich: Schon Mitte des 19. Jahrhunderts war der Frauenradrennsport in Belgien und Frankreich etabliert. 1868 fand in Bordeaux das erste bekannte reine Frauenradrennen statt. Es starteten vier Teilnehmerinnen. Offiziell wurde der Frauenradsport jedoch erst sehr viel später in den 1950er Jahren eingeführt. In einem ersten Schritt beschränkten sich die meisten Rennen auf die nationale Ebene. 1958 gingen Frauen erstmals bei Straßen-Weltmeisterschaften an den Start. Bei Olympia durften Frauen ab 1984 auf der Straße in die Pedale treten. 1988 folgte der Bahnradsport und zuletzt Mountainbike- und BMX-Rennen 2008.

Fasziniert berichtet die Autorin über die Geschichten der ersten Langstreckenradlerinnen: von Fanny Bullock Workman, die in den 1890er-Jahren in langen Röcken und mit viel Gepäck quer durch Europa und einen Großteil Südostasiens geradelt ist. Oder von Annie Kopchovsky, der ersten Frau, die mit dem Fahrrad um die Welt fuhr. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die lettische Einwanderin erst einige Wochen vor ihrem Aufbruch in Boston das Radfahren lernte. All diese Pionierinnen machten anderen Frauen Mut, aufs Rad zu steigen.

Technisch gesehen war eine einschneidende Wende die Erfindung der gebogenen Oberrohrstange anno 1885, die in den Folgejahren das Fahrrad immer mehr zu einem Must-have-Accessoire in der Damenwelt werden ließ. Sie und der später entwickelte niedrige Durchstieg machten das Rad für Frauen noch zugänglicher.

Radfahrpionierinnen erobern die Welt

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebte das Fahrrad einen ersten echten Boom, auch wenn es anfangs noch eher ein bürgerlicher Zeitvertreib war. Man musste sich eben ein Rad leisten können. Erst als um die Jahrhundertwende die fortschreitende Industrialisierung dazu führte, dass es Serienproduktionen gab, gingen die Preise runter und das Rad wurde zum Massentransportmittel. Arbeiterinnen radelten in den 1920er-Jahren morgens zuhauf in die Fabriken, spätestens ab den 1950er-Jahren war Fahrradfahren für beide Geschlechter Normalität geworden.

Allerdings haben längst nicht alle Regionen auf der Welt vom Emanzipationsbooster Fahrrad profitiert. Im Iran und in Afghanistan ist es Frauen komplett verboten, in der Öffentlichkeit Fahrrad zu fahren. Im streng konservativen Saudi-Arabien wurde es Frauen erst 2013 gesetzlich erlaubt, das Fahrrad zu nutzen. Und das auch nur mit strengen Auflagen und mit männlicher Begleitung. Im selben Jahr kam der Spielfilm „Das Mädchen Wadjda“ der saudi-arabischen Autorin und Regisseurin Haifaa al-Mansour in die Kinos. Der Film erzählt die Geschichte von einem jungen Mädchen, das davon träumt, ein Fahrrad zu besitzen.

Davon können auch in Afrika viele Mädchen und Frauen nur träumen. Zahlreiche Initiativen weltweit wollen daran etwas ändern. Zum Beispiel die Hilfsorganisation World Bicycle Relief, die seit ihrer Gründung 2005 mehr als 635.000 Fahrräder in abgelegene Regionen lieferte, damit Frauen dort schneller von A nach B kommen und den Zeitgewinn nutzen können, um einen besseren Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Einkommensmöglichkeiten zu erlangen.

Rauf aufs Rad, raus aus dem Korsett
"The fastest girl in the village": Khothalang Leuta ist in ihrem afrikanischen Heimatland eine Heldin auf zwei Rädern. In Lesotho ist es unüblich, dass Frauen überhaupt Fahrrad fahren© Tyrone Bradley/Red Bull Content Pool

Bewegend ist die Geschichte von Khothalang Leuta aus Lesotho, einst ein schüchternes Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen. Auf der mit Spendengeldern gebauten BMX-Strecke ihrer Heimatstadt Roma wurde Khothalang Teil einer kulturellen Transformation, denn in Lesotho ist es unüblich, dass Frauen Fahrrad fahren. Mittlerweile feiert die 18-Jährige internationale Erfolge und hat so den Boden für viele weitere Mädchen geebnet, die sich auf die Rennstrecke trauen. „Ich glaube, ich kann eine Inspiration sein. Und ich hoffe, ich kann alle zum Staunen bringen, wozu ein Mädchen aus Roma imstande ist.“

„Revolutions – wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten“
Rauf aufs Rad, raus aus dem Korsett© www.mairisch.de

Autorin Hannah Ross führt die Leserinnen und Leser von den Anfängen des Radfahrens im 19. Jahrhundert, als Frauen unglaubliche Widerstände überwinden mussten, bis in die Gegenwart. Das Fahrrad als echte "feministische Freiheitsmaschine".

24 Euro
Verlag: mairisch Verlag
Seitenzahl: 320
Ersterscheinung: 8. März 2022
ISBN: 9783948722142