SciFi-Kids
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November 2022

SciFi-Kids

Von Annika Bach und Clarissa Schmitt
Wie werden der demografische Wandel und der technologische Fortschritt das System Familie verändern? Das SOS-Kinderdorf Hamburg hat zusammen mit den Zukunftsspezialisten des Beratungsunternehmens Z_punkt einen Ausblick aufs Jahr 2070 gewagt und – um gezielt Diskussionen anzustoßen – durchaus provokante fiktive Zukunftsbilder gezeichnet.
Zukunftsbild „120 Plus“
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2070 liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der Population wohlhabender Nationen bei 120 Jahren, für 2100 wird sie bereits auf 135 Jahre prognostiziert. Der Wohlstand in diesen Ländern ermöglicht es vielen Menschen, sich geriatrisch behandeln zu lassen, sodass ein längeres und gesünderes Leben möglich wird. Die Politik fördert die Behandlungen monetär, um den Auswirkungen der schrumpfenden Gesellschaft auf das Wirtschaftssystem entgegenzuwirken. Das Leben des Menschen verändert sich radikal: Das Renteneintrittsalter wird auf 87 Jahre hochgesetzt und jüngeren Menschen wird mehr Zeit für Schule und Ausbildungen gelassen, um sich optimal und multiperspektivisch auf das Berufsleben vorzubereiten. Der medizinische Fortschritt zur Verlängerung der Fruchtbarkeit und der Fokus auf die Karriere führen dazu, dass immer mehr Frauen zunehmend später Kinder bekommen. Es ist üblich, mit 50 oder 60 Jahren das erste Kind zu bekommen.

Was bedeutet das für Kinder? Kinder verbringen mehr Lebensjahre bei ihrer Familie, als es noch in den Nullerjahren der Fall war. Im Durchschnitt ziehen Kinder erst im Alter von 30 Jahren bei ihren Eltern aus. Durch die Verlängerung der Schul- und Ausbildungszeit können sie individueller gefördert werden und es bleibt mehr Zeit für Auslands- und Austauschprogramme.

Was bedeutet das für Familien? Die Eltern-Kind-Beziehung befindet sich im Wandel. Nicht nur die Lebensverlängerung von Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, auch der Gesundheitszustand führt dazu, dass Traditionen der Familie besser aufrechterhalten werden und Familiengeschichten von Großfamilien wieder aufleben können.

Zukunftsbild „Das fahrende Klassenzimmer“
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2070 sind wasserstoffbetriebene, autonome Pods ein beliebtes Transportmittel. Besonders Eltern junger Kinder rufen sie gerne, um ihr Kind sicher von A nach B zu bringen, anstatt es mit öffentlichen Transportmitteln reisen zu lassen. Denn trotz der Möglichkeiten in virtuellen Realitäten wird noch viel Wert auf Erfahrungen in der echten Welt gelegt – Kinder sind viel unterwegs, treffen einander in der Schule oder in ihrer Freizeit, und Ausflüge mit praktischen Erfahrungen sind ein wichtiger Teil des Lehrplans.

Viele Services bieten spezielle Pods an, die auf Kinder ausgerichtet sind: So haben sie zum Beispiel für Kinder bequeme Sitzgelegenheiten und ein großes Angebot an kindgerechten Unterhaltungsmöglichkeiten. Zusätzlich lassen sich die Pods individuell gestalten, was etwa die Farben und digitale Dekoration der Innenwände angeht, sodass Kinder sich fast wie in ihrem eigenen Zimmer einrichten und wohlfühlen können. Die intelligent gesteuerten Licht- und Musikgestaltungen geben den Eltern zusätzlich das Gefühl, dass ihre Kinder gut aufgehoben und umsorgt sind.

Was bedeutet das für Kinder? Schon junge Kinder haben viel Bewegungsfreiheit und können auch mal eigenständig ihre Freunde besuchen fahren. Durch die positive und vertraute Atmosphäre in den Pods reisen sie gerne umher und an neue Orte, und die Stimmungsoptimierung sorgt für viele gute Tage und positive Erfahrungen. Allerdings verhindert sie auch manchmal, dass Kinder ihre Gefühle richtig ausleben und verarbeiten.

Was bedeutet das für Familien? Eltern geben mit den autonomen Pods viel Kontrolle ab und fördern schon früh die Selbstständigkeit ihrer Kinder. Sie gewinnen im Alltag Zeit, die sie zu einem anderen Zeitpunkt freier mit ihren Kindern verbringen können. Bei manchen Eltern weckt die Stimmungsoptimierungs-Funktion für Kinder unrealistische Erwartungen, was zu Leistungsdruck oder Positivitätszwang führen kann.

Zukunftsbild „Edu-Bot“
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2070 sind Edu-Bots weit verbreitet und in der Gesellschaft akzeptiert. Das traditionelle Bild der Familie hat sich bereits in den 2050er-Jahren begonnen aufzulösen, was die Geburtsstunde der Edu-Bots war und die weitere Auflösung klassischer Eltern-Kind-Beziehungen zur Folge hatte. Sozialpädagogische Grundsätze, die sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit Fokus auf Erziehung, Bildung und staatliche Intervention etabliert hatten, wurden bis ins Jahr 2070 weiterentwickelt. Die Erziehungsrolle muss nun nicht länger allein von Eltern und Bildungsbeauftragten getragen werden. Der Edu-Bot unterstützt den Erziehungs- und Bildungsauftrag als zusätzliche Erziehungskraft, die etablierte pädagogische Konzepte nach Wahl der Eltern unterstützen kann. Kinder werden individuell nach Bedürfnis gefördert, um sich in jeglichen Alltagssituationen einer zusehends komplexen Welt zurechtfinden zu können. Somit haben alle Kinder, unabhängig von ihrer individuellen Ausgangssituation, die gleiche Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Sowohl für Eltern als auch für Kinder existiert eine vorher nicht da gewesene Form der Freiheit.

Was bedeutet das für Kinder? Einerseits können Kinder hochgradig individuell gefördert und ihnen können Chancen eröffnet werden, die eine Lebenswelt ohne Edu-Bot so nicht bieten kann. Auf der anderen Seite können Kinder auch unter enormen Kontroll- und Leistungsdruck geraten, da ein Großteil ihres täglichen Lebens getrackt wird, um die Fördermaßnahmen des Bots zu personalisieren. Bei manchen Kindern kommt es auch zu Entwicklungsstörungen, da sie aufgrund der vielen Zeit mit dem Edu-Bot menschliche Gefühle und Mimik langsamer verstehen lernen.

Was bedeutet das für Familien? Erziehungsmuster werden durch den Edu-Bot neu definiert. Eltern leisten nicht mehr die maßgebliche Erziehungsarbeit, was zur Folge hat, dass sie sich deutlich weniger mit dem Kind auseinandersetzen. Dieser Reibungsverlust bringt auch einen Bindungsverlust mit sich. Zugleich führt die Tatsache, dass Kinder von den Eltern unabhängiger sind, zu zunehmender Entfremdung. Die „Ersetzung“ der Eltern durch den Edu-Bot hat ebenfalls eine Schwächung der Eltern-Kind-Bindung zur Konsequenz.

Zukunftswelt „Offline-Dorf“
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2070 ist gefühlt die ganze Welt immer online, und die physische Welt ist von digitalen Ebenen durchzogen. Selbst der menschliche Körper ist inzwischen ein cyber-physisches, durch verschiedenste Implantate optimiertes und vernetztes System. Als solche Eingriffe in den Körper in den 2050er-Jahren normal wurden, entschlossen sich immer mehr der schon lange existierenden Anti-Digitalisierungs- Bewegungen dazu, ihre eigenen Siedlungen und Gesellschaftsformen zu gründen. Statt digitaler Vernetzungen stehen dort zwischenmenschliche Verbindungen und die Einheit mit der Natur im Vordergrund. Mit neuen Technologien setzen sie sich hauptsächlich auseinander, um sie aus ihren Dörfern fernzuhalten und ihre Verbindungsmöglichkeiten durch ihre Filter kappen zu können.

Trotzdem sind diese Gemeinden nicht komplett isoliert – gesellschaftlich und politisch werden sie toleriert und dabei unterstützt, ihren Bewohnern eine hohe Lebensqualität zu bieten und zum Beispiel ihre eigenen Bildungsmodelle umzusetzen. Außerdem nehmen die Dörfer gerne alle Besucher auf, die ein Leben nach ihren Werten ausprobieren oder eine digitale Auszeit nehmen wollen.

Was bedeutet das für Kinder? Kinder in Offline-Dörfern wachsen komplett anders auf als Kinder im Rest der Gesellschaft. Selbst körperlich sind sie ohne die weitverbreiteten Implantate anders. Durch die Dorfbesuchenden sind sie sich dieser Unterschiede sehr bewusst, was für manche schwierig ist. Falls sie sich als Erwachsene entscheiden, ihr Dorf zu verlassen, haben sie oft Probleme, sich in die digitale Welt zu integrieren.

Was bedeutet das für Familien? Die Familienbeziehungen innerhalb und außerhalb der Offline-Dörfer sind teils sehr verschieden, weil sie durch die Anwesenheit oder Abwesenheit verschiedenster Technologien und Implantate beeinflusst werden. Weil das Leben innerhalb und außerhalb der Dörfer so verschieden ist, gibt es in manchen Familien auch Streit zwischen Eltern und Kindern, welches das bessere Lebensmodell ist.

Zukunftswelt „Reality-Filter“
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Im Jahr 2070 gibt es weit entwickelte gemischte und digitale Realitäten, in denen fast alles möglich ist. Menschen verbringen viel Zeit dort, um Neues zu erleben und zu entdecken. Besonders für Kinder ist das spannend, und sie sind am liebsten den ganzen Tag dort und in der echten Welt unterwegs. Allerdings gibt es auch vieles, was sie noch nicht sehen sollten, oder was schwierig zu verstehen ist – so kann es in digitalen Welten schwer sein, zu wissen, was normal oder realitätsnah ist. Der Reality Filter schützt Kinder vor gefährlichen oder überfordernden Erfahrungen, sodass sie auch ohne Begleitung eines Erwachsenen sicher auf Entdeckungstour gehen können.

Viele Eltern setzen auf diese Technologie und sie ist weitgehend akzeptiert. Auch auf die Vorgaben, was in welchem Alter herausgefiltert oder gezeigt werden sollte, einigt sich ein Großteil der Gesellschaft. Designierte Expertenräte prüfen und aktualisieren die empfohlenen Einstellungen regelmäßig, und Eltern können innerhalb eines festgelegten Rahmens die Programmierung etwas strenger oder lockerer gestalten, um ihre eigene Erziehungsphilosophie zu unterstützen.

Was bedeutet das für Kinder? Kinder können viel eigenständiger die echte sowie gemischte und digitale Welten erkunden und ihren Interessen folgen. Da gefährliche oder verstörende Dinge herausgefiltert werden, können sie länger unbeschwert sein und in einer „heilen“ Welt leben. Allerdings ist es dann für manche Kinder umso schwieriger, wenn sie in höherem Alter mit solchen Themen konfrontiert werden.

Was bedeutet das für Familien? Der Reality Filter setzt vieles direkt und unmerklich um, um das sich sonst als Regel oder Verbot gestritten werden könnte. Dadurch sind Eltern weniger stark in einer aktiv wahrgenommenen Erziehungsrolle. Gleichzeitig gibt es für Kinder keine Möglichkeit, die Filtereinstellungen zu umgehen, sodass ihr Realitätsbild von der Filterkonfiguration der Eltern vorgegeben ist.

Zukunftswelt „Resilience Kid“
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Die Auswirkungen des Klimawandels machen menschliches Leben auf dem Planeten an vielen Orten nahezu unmöglich. Je nach Region gibt es unterschiedliche Anforderungen der Klimawandelanpassung, die ein beschwerdefreies Leben möglich machen. Das „Resilience Kid“ ist eine kostspielige Möglichkeit, vor allem von Eltern gewählt, die ihren Kindern eine sorgenfreie und lebenswerte Zukunft ermöglichen und absichern wollen und sich dies auch monetär leisten können. So wird es ihren Kindern durch genetische oder technologische Anpassungen, die bereits vor oder kurz nach der Geburt getroffen werden, möglich, unter extremen Bedingungen angenehm zu leben. Aufgrund stetiger Innovation und Anpassung der Lösungen an neue Klimawandelherausforderungen sind Kinder oft besser angepasst als ihre Eltern. Der Vorgang ist sehr kostspielig und wird vor allem im Globalen Norden durchgeführt. NGOs setzen sich dafür ein, dass diese Unterstützung für alle Kinder möglich ist.

Was bedeutet das für Kinder? Kinder werden bereits vor oder kurz nach ihrer Geburt in ihrem Wesen angepasst und erfahren somit einen Eingriff in ihre Fähigkeiten und in ihre Persönlichkeit. Die Ungleichheit zwischen Kindern nimmt enorm zu und ist an den Wohlstand der Familie gekoppelt. „Resilience Kid“-adaptierte Kinder haben eine höhere Lebenserwartung und haben von Geburt an eine höhere Chance auf eine bessere Lebensqualität, kommen jedoch mit einer hohen Verantwortung gegenüber ihren Familien auf die Welt.

Was bedeutet das für Familien? Die Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern wächst enorm. Bereits vor der Geburt ihrer Kinder müssen sie für die Sicherheit ihrer Kinder sorgen. Familien- und Kinderplanung wird oft davon abhängig gemacht, ob Eltern sich die Anpassungsmöglichkeiten leisten können. Außerdem sind viele Familien auf die Fähigkeitsanpassungen ihrer Kinder angewiesen, um lebensfähig zu bleiben. Kinder sorgen vermehrt für ihre Familie, was teilweise zur Umkehrung des Eltern-Kind-Verhältnisses führt.