Städte aus dem Nichts
Washington D.C.
Früher Mücken, heute Weltpolitik
Wo heute Weltpolitik gemacht wird, lag vor über zweihundert Jahren nur ein sumpfiges Delta zweier Flüsse. In diesem von Mücken umschwärmten Nirgendwo, weit weg von New Yorks und Philadelphias Lobbyisten, entstand die neue Hauptstadt der USA, Washington D.C., 1791 geplant von Pierre Charles L’Enfant.
Im Gegensatz zur langsam gewachsenen Stadt hat eine Planstadt einen gestalteten Grundriss und oft ein einheitliches Erscheinungsbild und Nutzungsziel. Zum Beispiel entstand das antike Köln auf einem Standardgrundriss, der für alle römischen Neusiedlungen galt. Oder Neuf-Brisach, das Ludwig der XIV. als Festungsstadt neu errichten ließ, um die französische Grenze am Rhein zu sichern. Meist waren Planstädte Ausdruck einer Weltanschauung, zum Beispiel das mit absolutistischem Herrschaftsanspruch gebaute Karlsruhe oder das viel später nach sozialistischen Idealen geplante Halle-Neustadt. Die Planstadt ist der Wunsch nach einer perfekten Kulisse für eine perfekte Gesellschaft.
Auch L’Enfant plante Washington D.C. mit viel Repräsentation und Pathos: Ein quadratisches Straßenraster mit prachtvollen Plätzen und Parks und durchzogen von langen Boulevards, die vom Zentrum der Macht, dem Kapitol, abgingen. 800.000 Einwohner sollten hier leben. Als 1800 der Kongress in das Kapitol einzog, hatte die Stadt nur 8.000 Einwohner. Deren Häuser verloren sich in der Wiesenlandschaft unterhalb des Regierungsgebäudes. Wer aus dem Kapitol ins Freie trat, trug besser Stiefel gegen den Matsch. Erst im 20. Jahrhundert bekam Washington D.C. die stadtprägende National Mall mit zahlreichen Museen. 1950 erreichte die Stadt schließlich ihre geplante Einwohnerzahl. In der Kernstadt unterhalb des Kapitol Hill blieb die ursprüngliche Planstadt bis heute erhalten und dank der breiten Straßenschneisen auch funktionsfähig. Die Ruhe beim Regieren aber ist vorbei: Washington hat heute nicht nur viele Lobbyisten, sondern große soziale Probleme, Armut und Gewalt.
Brasilia
Der brasilianische Traum
Eine andere Planhauptstadt ist Brasília, in der tropischen Einöde, in der geografischen Mitte Brasiliens, ab 1951 nach den Plänen Lúcio Costas und Oscar Niemeyers entstanden. Die neue Hauptstadt stand für ein anderes Leben, fern der Korruption, Ungleichheit, Armut und Kriminalität der Küstenstädte. In Brasília sollte eine halbe Million Menschen gerecht, würdevoll und friedlich miteinander leben. Das Projekt schien wahnsinnig: Der Bauplatz war nicht erschlossen. Tausende Arbeiter schlugen über hundert Kilometer lange Schneisen für Straßen in die zugewucherte Wildnis. Lkw-Kolonnen transportierten Tonnen von Sand und Kies. In kurzer Zeit bauten Arbeiter eine faszinierende Beton-Stadt aus eleganten Bögen, kühn geschwungenen Dächern und hoch aufgereckten Scheiben. Dazwischen liegen große Magistralen und weites Grün. Brasília ist eine gebaute Gesellschaftsutopie. Sie ist heute Weltkulturerbe, aber sozial scheiterte sie: Die Kernstadt ist zu teuer für die Arbeiter und zu öde für die Wohlhabenden. Die einen leben in den wachsenden Slums der Vorstädte, die anderen fliegen am Wochenende nach Rio oder São Paulo. Weil auch die Industrie kein Interesse an Brasília zeigt, gehören die Arbeitslosigkeit und die Kriminalitätsrate zu den höchsten des Landes.
Paris
Schöner Wohnen
Meist ist die Planstadt schlicht notwendig, zum Beispiel, wenn die alte Stadt nicht mehr funktioniert. So wie in Paris. Das hatte sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf fast eine Million Einwohner verdichtet. Die Stadt war eng, dunkel und stank. Sie hatte keine Trinkwasserversorgung, keine Kanalisation, dafür immer wieder Epidemien und eine hohe Kindersterblichkeit. Georges-Eugène Baron Haussmann, Präfekt von Paris, griff 1853 zum Äußersten: Er ließ etwa 19.000 Häuser abreißen und an ihrer Stelle breite Alleen, Plätze, hohe Wohnhäuser und zahlreiche Monumente erbauen. So entstand das klassizistische Paris. Die Baustelle lärmte und staubte mehr als zwanzig Jahre. Haussmanns Plan galt als Erfolg und als Maßstab für alle folgenden Stadtplanungen. Aber der Umbau zeigte die Schatten eines jeden Tabula-Rasa-Projektes: Mit den Nachbarn und den bekannten Straßenzügen verschwindet die Identität der alten Stadt und das Gefühl von Heimat. Und wenn Mieten steigen, so wie im Haussmannschen Paris, dann werden alteingesessene und arme Einwohner an den Stadtrand gedrängt.
3 Mio. Einwohnern
sollte die autogerechte Pariser Planstadt „Voisin“ Platz bieten, die Architekt Le Corbusier 1925 entworfen hat. Achtzehn kreuzförmige, sechziggeschossige Hochhäuser mit großen Verkehrsschneisen zu Füßen sollten die alte Pariser Innenstadt ersetzen. Es blieb eine Utopie.
Barcelona
Katalanisch im Quadrat
Gleiches Problem, andere Stadt: Wie Paris wurde das mittelalterliche Barcelona zu eng. Doch statt sie abzureißen, erweiterte Stadtplaner Ildefons Cerdà die Metropole um etwa das Achtfache ihrer Größe. Für das „Eixample“ plante er fünfgeschossige Wohnhäuser auf einem quadratischen Straßenraster, mit grünen Innenhöfen und kleinen Parks. Alleen durchschneiden das Raster und verlaufen strahlförmig auf die prachtvolle Plaza de las Glòries. Doch Bodenspekulationen verteuerten die Grundstücke. Statt Licht, Luft, Grün und Innenhöfen wuchs ein kilometerlanges, dichtes Häusermeer. Die repräsentative Plaza de las Glòries wurde zum zweigeschossigen Straßenkreisel. Das Eixample ist heute eines der am dichtesten besiedelten Wohngebiete Europas. Trotzdem ist es sehr beliebt. Bis 2020 plant die Stadtregierung die Zahl der Bäume zu verdreifachen und die Plaza de las Glòries von Autos zu befreien und zum Stadtpark umzubauen. Barcelona folgt damit dem neuen Leitbild unserer Zeit: die grüne Planstadt.
Tianjin Eco City
Chinas grüne Welle
Die Welt befindet sich in einer rasanten Verstädterung, allein in China sollen bis 2030 eine Milliarde Menschen in Städten leben. Es braucht also neue Lösungen für eine umweltverträgliche Mobilität, Energie und Industrie in der Stadt. Maßstäbe setzen soll Tianjin Eco City, ein 30 Quadratkilometer großes, grünes Utopia, 150 Kilometer von Peking entfernt. Die Stadt entsteht seit 2007 auf einem ehemals mit Schmutzwasser verseuchten Küstenstreifen. Die Umweltziele der Projektplaner sind ehrgeizig: Die Stadt soll mit futuristischen Wohnhochhäusern und Grünzügen in der Größe von 588 Fußballfeldern eine nachhaltige Lebensweise ermöglichen. Der Strom soll aus erneuerbaren Energien kommen, die Bauten energiesparend und flächig begrünt sein. Die Menschen werden laut Plan in sozial durchmischten Nachbarschaften leben und zu Fuß, mit dem Rad oder mit Bus und Bahn zur nahen Arbeit und zum Einkaufen kommen. Bis 2020 sollen hier 350.000 Menschen leben und arbeiten. Noch bleiben die Einwohnerzahlen hinter den Erwartungen zurück, und die errichteten Häuser wirken wenig ökofuturistisch. Aber die Flächen für Parks sind da, noch ist alles möglich. Denn die chinesische Bauindustrie verändert ihre Leitbilder, Standards und Richtlinien erstaunlich schnell. Sie startet Bauprojekte mit einer für Europäer eher fremden Zukunftseuphorie und trennt sich dabei ohne Zögern vom Gestrigen, von überholten Projektideen genauso wie von historischen Stadtvierteln oder alten Gebäuden. In Chinas Städten ist nichts von langer Dauer.
Masdar
Fosters Fata morgana
Auch die Einwohner von Masdar City hoffen noch. Das Projekt startete 2008 als erste Ökoplanstadt der Welt, in der Wüste bei Abu Dhabi. Der britische Architekt Norman Foster plante Masdar kleinteilig nach dem Vorbild alter, arabischer Städte, mit schattigen Gassen und kleinen Plätzen. Zur Beschattung und Kühlung der Gebäude in der Wüstenhitze dienen sowohl traditionelle als auch neue Bauweisen. Tatsächlich ist die gebaute Architektur so spannend wie auf den ersten Plänen. Es gibt in Masdar herausragende Technologien wie selbstfahrende Elektrotaxis als Ersatz für Privatautos, moderne Windtürme zur Kühlung von Gebäuden und eine 22 Hektar große Photovoltaikanlage. Einzig der Baufortschritt verlangsamte sich enorm: Die Stadt sollte bis 2016 fertiggestellt sein, 47.000 Einwohner haben und vollkommen energieautark und nachhaltig funktionieren. Bis 2017 waren nur 13 Gebäude, fünf Prozent der Stadt, fertiggestellt. Die wenigen Bewohner hoffen, dass ihre Stadt 2030 endlich fertig wird.
Songdo
Daten im Fluss von Songdo
Es gibt noch ein aktuelles Leitbild für Planstädte: Das ist die digitale Stadt, die „Smart City“. Als solche wird die südkoreanische Küstenstadt Songdo IBD seit 2005 gebaut, eine sechs Quadratkilometer große Planstadt für ca. 70.000 Menschen, 40 Kilometer von Seoul entfernt. Auch hier ist alles geplant, was eine funktionsfähige Stadt verlangt: eine Mischnutzung von Wohnen, Arbeiten, Bildung und Kultur, große Wasserflächen und Parks, die etwa ein Drittel des Gesamtareals belegen, dazu eine Anbindung über Elektro-Wassertaxis, U-Bahn und Bus. Was Songdo IBD zu einer Smart City macht, ist die Vernetzung aller Nutzerdaten: Die Daten aller Bewohner, Besucher und Dienstleister sind miteinander vernetzt. Via Internet, aber auch über die Haustechnik, über ein stadtweites Kamerasystem und über multifunktionale Chipkarten. Die nutzen die Bewohner als Fahrticket, als Wohnungsschlüssel, aber auch als Krankenkassen- und Bankkarte – eine Karte für alles. Ein IT-System sammelt sämtliche Daten und steuert nach Bedarf die Infrastruktur, wie die Haustechnik oder den ÖPNV. Ziel ist, Ressourcen wie Strom oder Wasser optimal zu steuern und bis zu 30 Prozent einzusparen. Was für uns wie ein Orwell’scher Albtraum klingt, sehen viele Koreaner als Erleichterung für Alltag und Klimaschutz. Immerhin ist Songdo IBD bereits etwa zur Hälfte bewohnt. Viele Unternehmen sind schon vor Ort, die Parks angelegt und die meisten Wolkenkratzer gebaut.
Neom
„Never-seen-before“
Während Songdo bereits Realität ist, plant die saudische Königsfamilie alle bisherigen Planstädte zu übertrumpfen. Am Roten Meer im saudi-arabischen Nirgendwo soll die Stadt Neom entstehen, auf einer Fläche, weiter als der Großraum von Paris. Noch ist die Stadt Wüstengestein und doch mehr: Neom ist eine Utopie der Superlative mit einem Budget von 500 Milliarden Dollar. Hier sollen Menschen entspannter, vielfältiger, moderner, intelligenter und glücklicher zusammenleben. Sie sollen neue Technologien erforschen und neue Wirtschaftszweige etablieren, Kultur, Kunst und Bildung, eine automatisierte Infrastruktur sowie den Klima- und Umweltschutz voranbringen. Oder, mit den Worten der Investoren, ein Ort „mit einem nie zuvor gesehenen Ausmaß für eine neue, inspirierende Ära der menschlichen Zivilisation“.