Tokio 24h
Das Klischee stimmt: In der morgendlichen Stoßzeit sind die Bahnen in, unter und über Tokio so voll, dass weitere Passagiere vom Bahnhofspersonal mit vereinten Kräften durch die Türen gestemmt werden müssen. Bis man meint, mehr geht nicht. Und dann geht doch noch mehr. Und dann noch ein bisschen. Und vielleicht ist es dann wirklich genug und der Zug fährt ab. Man hat das Gefühl, dass gerade ganz Japan in ein einziges Abteil gequetscht wurde.
Auch das ist Tokio: Geldautomaten mit Öffnungszeiten
Andreas Neuenkirchen
Ganz Japan? Nein, denn ich mache dabei nicht mit. Als freier Autor kann ich selbst entscheiden, wann und wo ich arbeiten möchte, und ob ich dorthin überhaupt mit einem Zug fahren muss. Auf jeden Fall muss ich zuerst das Kind im Kindergarten abwerfen, das geschieht gegen neun Uhr. Danach gehe auch ich zur Arbeit. Da ist das ganz große Quetschen in den Bahnen schon vorbei, aber voll genug sind sie immer noch. Also lieber ins Café um die Ecke.
Laptop allein am Platz
Zuerst suche ich mir im ersten Stock einen Platz aus, den ich mit Ablage meines Laptops reserviere, ehe ich wieder ins Erdgeschoss gehe, um meine Bestellung aufzugeben. Als ich zum ersten Mal beobachtete, wie arglos die Japaner ihr Revier mit unbeaufsichtigten Wertgegenständen markieren, war ich zwar angetan von diesem offenbar gerechtfertigten Vertrauen in ihre Mitmenschen, dachte allerdings, ich würde daran niemals teilhaben können, könnte mich nie überwinden, mein herkunftsgeprägtes Misstrauen gegenüber der Menschheit abzulegen. Konnte ich aber letztendlich doch.
Über 5 Mio.
Verkaufsautomaten sind in Japan aufgestellt – für Getränke, Regenschirme, Fischsuppen oder auch Grippeschutzmasken. Die Produkte sind – wenn überhaupt – nur unwesentlich teurer als im Geschäft. Jahresumsatz der Geräte: über 50 Mrd. Euro. Wer alkoholische Getränke wie Bier und Sake oder Zigaretten ziehen will, der muss sich seit den Neunzigerjahren an der Maschine ausweisen.
Obwohl die, die es sich im oberen Stockwerk bequem gemacht haben, so bald nirgendwo hingehen werden, handelt es sich bei den meisten meiner Sitznachbarn keineswegs um Müßiggänger. Fast jeder ist wie ich: bei der Arbeit. Steckdosen sind in diesem Café so selbstverständlich wie das Gratiswasser. In der Gegend gibt es einige Firmen, die der Unterhaltungsindustrie zuzuordnen sind, deshalb sieht man beim verstohlenen Blick auf fremde Bildschirme schon mal Mangafiguren oder Filmanimationen entstehen. Nur zu hören gibt es im Café nichts, geschwatzt wird in Japan eher anderswo.
Bargeldlos zum Zug
Manchmal braucht man etwas zu lesen, will man etwas schreiben. Neues Material finde ich mit Vorliebe in der Filiale der Kinokuniya-Buchhandlungskette im Einkaufszentrum Takashimaya Times Square in Shinjuku. Die Yamanote-Eisenbahnlinie fährt unermüdlich im Kreis durch die Innenstadt. Ein ganzer Kreis dauert 90 Minuten, nach Shinjuku dauert es von meinem Bahnhof nur zwölf.
Shinjuku ist wohl der geschäftigste Bahnhof der Welt, über 3,5 Millionen Passagiere werden dort täglich abgefertigt. Schaffner und Ticketkontrollen gibt es im städtischen Verkehr und in den allermeisten Fernzügen nicht, denn man kommt ohne Bezahlung ohnehin nicht zum Gleis. Dabei sieht man es heute kaum noch, dass jemand mal ein Papierticket aus dem Automaten in den Schlitz der Zugangspforten steckt. Selbst die meisten Touristen schwören heute auf die aufladbaren Bargeldkarten, die einfach bei Antritt und Abschluss der Reise an den Sensor der Pforten gehalten werden und den korrekten Betrag automatisch abbuchen. Wer nicht genug Geld auf der Karte hat, kann vor Ort nachladen. Inzwischen gibt es auch die Möglichkeit, das Guthaben automatisch vom eigenen Bank- oder Kreditkartenkonto aufstocken zu lassen, sobald ein gewisser Betrag unterschritten wird.
Warum wir Tokio lieben
Tokio ist riesig. Und vielfältig. Vor allem ist Tokio lebens- und liebenswert – das finden auch diese fünf Schaeffler-Mitarbeiter, die als sogenannte Expats vor Ort leben.
Die Kinokuniya-Filiale in Shinjuku bot einmal Bücher auf mehreren großen Stockwerken feil. Inzwischen ist nur das mit den internationalen Büchern geblieben, der Rest ist Möbelhaus geworden. Auch in Japan haben Buchhandlungen es nicht mehr leicht. Für die Buchsuche könnte ich den bereitgestellten Buchsuchcomputer verwenden, der mir zu jedem Titel einen kleinen Zettel mit Lageplan und Regalnummer ausspuckt. Das habe ich allerdings nicht nötig. In den Straßen der Stadt mag ich mich manchmal verlaufen. Doch in ihren Buchhandlungen kenne ich mich aus.
Tokio in Zahlen
Nudeln zwischen Schienen
Höchstwahrscheinlich habe ich mich länger als geplant bei Kinokuniya aufgehalten, also gibt’s zum Mittag nur tachigui soba, wörtlich Sobanudeln im Stehen. Ganz so wörtlich muss es heute nicht mehr genommen werden: Es gibt in entsprechenden Schnellrestaurants auch andere Nudeln, und vereinzelt sogar Sitzgelegenheiten. Gemein ist ihnen, dass sie sich unmittelbar auf den Bahnsteigen befinden, beidseitig umrauscht vom ständigen Ein- und Ausfahren der Züge. So hat es der eilige Geschäftsreisende nicht weit, wenn ihn der Hunger plagt. Bestellt und bezahlt wird bereits vor Betreten der kleinen Bude an einem Automaten. Den Zettel, der ausgedruckt wird, gibt man innen der Bedienung. Der Automat vor dem Laden an meinem Heimatbahnhof hat einen Touchscreen und ist auf mehrere Sprachen umstellbar. Normalerweise versuche ich mich gerne am japanischen Original. In dieser Situation allerdings fordert die Höflichkeit gegenüber den anderen Hungrigen in der Schlange Eile, also kapituliere ich und stelle um auf Englisch, woraufhin mich das Gerät unangenehm laut in einer Tour anbrüllt: „PLEASE INSERT YOUR MONEY NOW!“ „PLEASE WAIT!“ „PLEASE TAKE YOUR RECEIPT!“
Nach dem Essen noch einen Kaffee, aber nicht wieder ins Café? Kein Problem. Ein Verkaufsautomat mit einer größeren Auswahl an Dosenkaffee, als einer schnellen Entscheidungsfindung förderlich ist, wartet an jeder Ecke. Vor bösen Überraschungen ist gefeit, wer auf die kleinen Schilder vor den Dosen achtet: Rot heißt brühend heiß, blau heißt eiskalt. Beides wohnt harmonisch in derselben Maschine. Kein Wunder, dass es nach den Natur- und Energiekatastrophen im März 2011 zu den ersten Stromsparmaßnahmen gehörte, Getränkeautomaten abzuschalten.
100-Yen-Shops
sind – neben den konbinis – eine wahre Shopping-Institution in Japan. Und zwar durch alle Gesellschaftsschichten hindurch. Alles, was man für den täglichen Bedarf benötigt, kostet hier 100 Yen (105 inkl. Steuern), also weniger als einen Euro. Die Bandbreite reicht von nützlich bis skurril, von Haushalts- bis Scherzartikel. Japanexperte Neuenkirchen rät: „Am befriedigendsten ist der Besuch, wenn man sich ohne Voreingenommenheit vom 100-Yen-Shop seine Wünsche diktieren lässt.“
Mein Nachmittag gehört dem Homeoffice und unterscheidet sich bestimmt nicht großartig von Homeoffice-Nachmittagen in anderen Teilen der Welt. Eine bekannte Homeoffice-Regel lautet, niemals im Schlafanzug zu arbeiten, denn wer einen Schlafanzug trägt, der denkt: Schlafen. Ich füge die Regel hinzu, niemals im Wohnzimmer zu arbeiten. Denn wer im Wohnzimmer sitzt, der denkt: Feierabend. Vor dem tatsächlichen Feierabend sollte das Kind nicht im Kindergarten vergessen werden. Sind alle daheim, gut gefüttert, und ist das jüngste Familienmitglied erschöpft auf dem Familienfuton eingeschlafen, könnte der gemütliche Teil des Abends beginnen. Möchte man dabei etwas Gemütliches trinken oder knabbern, führt der Weg noch schnell in den Convenience Store, im Volksmund abgekürzt konbini.
Rund 55.000 davon gibt es in Japan, einer kommt auf rund 23.000 Einwohner. Ein konbini ist Supermarkt, Schreibwaren- und Elektronikhandel, Spirituosenfachgeschäft, Copy- und Coffee-Shop, Drogerie, Eisdiele, Apotheke, Postamt, Kreditinstitut und kommunaler Treffpunkt in einem. Hier scanne, kopiere und faxe ich auch. Was soll ich mit einem Multifunktionsgerät, wenn ich mindestens sechs konbinis in unmittelbarer Nähe habe? Da gönne ich meinem Schreibtisch lieber einen oder zwei Bücherstapel mehr. Außerdem kann ich im konbini unsere Bestellungen diverser Online-Shops bezahlen oder abholen, und an den Geldautomaten der 7-Eleven-Kette kann ich sogar mit deutscher Karte rund um die Uhr Geld abheben. Beides ist keine Selbstverständlichkeit; die meisten Automaten sind wenig tolerant gegenüber ausländischen Instituten. Und mit meiner japanischen Karte stehe ich oft vor dem Problem, dass hiesige Banken auch ihren Automaten Öffnungszeiten zugestehen. Zu gar nicht allzu später Stunde heißt es häufig: Bitte kommen Sie morgen wieder.
Bunt und ausgefallen
Ist das Finanzielle geregelt und die Verpflegung gesichert, darf ferngesehen werden. Beim japanischen Fernsehen habe ich den Eindruck, die Macher hätten gerade erst das Farbfernsehen erfunden und seien noch ganz berauscht von all seinen Möglichkeiten. Doch so bunt und ausgefallen Garderoben und Kulissen sein mögen, die Inhalte finden wir meist recht öde. Drum streamen wir unser Fernsehen lieber aus weniger bunten Ländern. Wir haben, bei aller Liebe, bereits genug Japan um uns herum. Und morgen geht’s wieder los.