Das Maß aller Dinge

Von Björn Carstens
Vor 150 Jahren legte die Meterkonvention den Grundstein für das Internationale Einheitensystem, das heute von Nanometer bis Kilometer alles präzise misst. Wie kam es dazu – „tomorrow“ liefert einen kompakten Überblick und Schaeffler-Experte Tim Hosenfeldt erklärt, was einheitliche Maßeinheiten für Forschung und Innovation bedeuten.
© BugTiger/iStock

Acht Minuten bis zur nächsten U-Bahn. Zwei Kilogramm Äpfel im Einkaufsbeutel. 500 Meter bis zum Ziel. Zahlen sind unser ständiger Begleiter – sie stecken in Fahrplänen, Rezepten und Fitness-Apps. Hinter dieser Selbstverständlichkeit steckt eine stille Ordnung: einheitliche Maße, die auch ein verlässliches Fundament für den technischen Fortschritt bilden. In der wissenschaftlichen Welt hat sich das metrische System, das im Laufe der Zeit zum „Internationalen Einheitensystem (SI)“ erweitert wurde, global durchgesetzt. Auch wenn im Alltag in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Kanada bekanntermaßen angloamerikanische Maßeinheiten wie Meilen, Gallonen oder Pfund üblich sind, messen und denken Wissenschaft und Technik dort ebenfalls weitestgehend metrisch. Auch bei der NASA wird in Metern gerechnet.

Wie alles begann

Schon die alten Ägypter arbeiteten mit Maßstäben: Ihre „Königselle“ aus Granit, knapp 52 Zentimeter lang, diente als Standard für den Bau der Pyramiden. Auch in Mesopotamien, Griechenland und Rom entstanden eigene Maße für Längen und Gewichte. Doch über Jahrhunderte blieb das System ein Flickenteppich – im Mittelalter konnte ein „Fuß“ von Stadt zu Stadt variieren, und ein „Pfund“ wog in Neapel etwas anderes als in Köln. Handel und Wissenschaft litten unter diesem Chaos.

Die Französische Revolution brachte den großen Bruch. 1791 definierte die Akademie der Wissenschaften den Meter als den zehnmillionsten Teil der Meridianlänge vom Pol zum Äquator, bereits 1795 führte Frankreich ein dezimales Maßsystem ein: Meter, Kilogramm, Liter. Diese Einheiten waren nicht mehr an Körpermaße oder willkürliche Königsmaße gebunden. Bald entstanden erste Urmaße aus Platin – doch die internationale Durchsetzung blieb schwierig.

Mit der Industrialisierung und wachsendem Welthandel wuchs der Druck auf verbindliche Standards. Am 20. Mai 1875 setzten schließlich 17 Staaten in Paris ihre Unterschrift unter die Meterkonvention. Sie schufen das „Internationale Büro für Maß und Gewicht" in Sèvres bei Paris – das BIPM – und legten damit den Grundstein für das weltweit gültige Einheitensystem, das bis heute Wissenschaft, Technik und Alltag trägt.

Unterzeichnende Staaten waren Argentinien, Österreich-Ungarn, Belgien, Brasilien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien, Peru, Portugal, Russland, Spanien, Schweden und Norwegen, die Schweiz, das Osmanische Reich, die USA und Venezuela.

Ein Kilo ist ein Kilo ist ein Kilo – oder etwa doch nicht?

Ein entscheidender Schritt folgte im 20. Jahrhundert, als die physischen Urmaße Schritt für Schritt durch Definitionen ersetzt wurden, die auf Naturkonstanten beruhen. Seit 1967 orientiert sich die Sekunde an Schwingungen des Cäsiumatoms dank der Zeitmessung über Atomuhren. Genauer gesagt bezieht sich die Sekunde auf eine definierte Zahl von Schwingungen in der Elektronenhülle des Cäsiumatoms, den sogenannten Uhrenübergang. Der Meter orientiert sich seit 1983 an der Lichtgeschwindigkeit. Man erhält einen Meter, wenn man jene Strecke durch 299.792.458 teilt, die Licht im Vakuum in einer Sekunde zurücklegt. Bis zum Jahr 1983 war auch diese Einheit noch über ein Metallstück definiert – das sogenannte Urmeter.

Das Maß aller Dinge
Das „Urmeter“ ist heute ein Museumsstück. Es ruht sicher verwahrt in einem Safe im Internationalen Büro für Maß und Gewicht (BIPM) in Sèvres bei Paris, viele Jahrzehnte beschrieb er den internationalen Meter-Prototyp, ein Strichmaßstab mit X-förmigem Querschnittsprofil aus Platin-Iridium© PTB

Dr. Dr. Jens Simon, Leiter der Öffentlichkeitsabteilung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig, erklärt anschaulich die Notwendigkeit der Neudefinitionen: „So schön und wertvoll und anschaulich ein verkörpertes Maß wie der Ur-Meter auch ist, hat er, bei genauem Hinsehen, doch eine Reihe von Problemen. Schon die Temperatur verändert seine Länge; die Gravitation zerrt, je nachdem, wie er festgehalten wird, an seiner Form; die Verwendung im Labor hinterlässt Gebrauchsspuren. Schließlich: Nur ein Objekt allein, auf das sich alles bezieht, genügt nicht. Es müssen möglichst identische Kopien hergestellt und verteilt werden. Und: Längenmaßstäbe werden nicht nur in der Größenordnung Meter gebraucht, sondern überall auf der Längenskala zwischen Mikro- und Makrokosmos. Ein Nano- oder Femtometer lässt sich ebenso wenig mit einem Ur-Meter ausmessen wie ein Kilometer oder gar astronomische Distanzen. Überwinden lassen sich diese Probleme nur, wenn man die Verkörperung des Maßes aufgibt und an deren Stelle etwas tritt, das per se unveränderlich und auf der ganzen Skala der Einheit gültig ist: Naturkonstanten, also unveränderliche Merkmale der Natur.“

Am 20. Mai 2019 schließlich erreichte das Internationale Einheitensystem (SI) seinen bislang größten Umbruch: Basiseinheiten vom Kilogramm bis zum Mol wurden neu definiert, ausschließlich auf Grundlage universeller Naturkonstanten wie Lichtgeschwindigkeit oder die kleinstmögliche elektrische Ladungsmenge.

Besonders greifbar wird das am Beispiel des Kilogramms: Bis 2019 hing es von einem Metall-Zylinder aus Platin-Iridium in einem Tresor bei Paris ab. Dieses „Urkilogramm“ verlor im Laufe der Jahrzehnte winzige Bruchteile seiner Masse – ein Problem für Präzisionsforschung und Hightech. Heute basiert das Kilogramm auf der sogenannten Planck-Konstante, einer unverrückbaren Größe der Natur. Ob in einem Labor in Berlin oder einer Fabrik in Seoul: Ein Kilogramm ist überall und für immer dasselbe.

Das Maß aller Dinge
In Paris lagert seit dem 19. Jahrhundert ein von mehreren Glasglocken geschützter Platinzylinder – das Ur-Kilogramm. Bei Vergleichsmessungen von Urkilogramm und seinen weltweit verteilten Kopien schien das Urkilogramm immer leichter zu werden - womöglich hervorgerufen durchs Reinigen. Ein Problem, das seit 2019 behoben ist. Seitdem basiert das Kilo auf einer Naturkonstante.© PTB
Warum sind präzise, einordbare Messwerte so wichtig in einer globalisierten Welt?

Von der Nanostruktur eines Werkstoffs bis zur Bauteilgeometrie im Meterbereich – „tomorrow“ hat mit Tim Hosenfeldt, Leiter Zentrale Technologien bei Schaeffler, über Messtechnik, Präzision und internationale Normen gesprochen – die Grundpfeiler für Qualität, Sicherheit und Innovation in globalen Lieferketten. 3 Fragen an Tim Hosenfeldt.

„Think big“ oder „klein, aber fein“ – welche Messwelten finden Sie spannender?
Besonders faszinierend sind für mich skalenübergreifende Messungen: Sie ermöglichen es, Werkstoffeigenschaften umfassend zu erfassen – von der Zusammensetzung und Struktur im Nanometerbereich über die Mikrostruktur des Gefüges und die Beschaffenheit der Oberflächen bis hin zu den daraus resultierenden Bauteilgeometrien und funktionsrelevanten Eigenschaften. Damit entsteht ein ganzheitliches Verständnis der Zusammenhänge zwischen Ausgangsmaterial, Fertigungsprozess, Werkstoffeigenschaften und Bauteilperformance.

Wie wichtig ist extreme Genauigkeit in der Industrie heute – und wo macht sie den entscheidenden Unterschied?
Extreme Genauigkeit ist für die Industrie heute unverzichtbar. Sie ist die Grundlage für Qualität, Sicherheit, effiziente Abläufe und neue Technologien – und sie macht in fast allen Bereichen den entscheidenden Unterschied. Schon kleinste Abweichungen im Mikrometerbereich können bei hochkomplexen Bauteilen in Branchen wie Automobil, Medizintechnik oder Luftfahrt zu Problemen führen. Nur mit höchster Präzision wird gewährleistet, dass jedes Teil zuverlässig funktioniert, langlebig ist und den strengen Anforderungen entspricht. Auch in puncto Sicherheit kommt es auf Genauigkeit an. Besonders in sicherheitskritischen Anwendungen, etwa in Flugzeugen, Fahrzeugen oder medizinischen Geräten, verhindert exakte Fertigung gefährliche Fehler und minimiert Risiken.

Das Maß aller Dinge
Tim Hosenfeldt, Leiter Zentrale Technologien bei Schaeffler
© Schaeffler/Daniel Karmann

„Präzision zahlt sich direkt aus: Sie reduziert Ausschuss, vermeidet kostenintensive Nacharbeiten und spart Material.“

Präzision zahlt sich direkt aus: Sie reduziert Ausschuss, vermeidet kostenintensive Nacharbeiten und spart Material. Die Kernkompetenzen von Schaeffler bestehen darin, das richtige Material in der richtigen Menge am richtigen Ort mit der richtigen Funktionalität zum besten Verhältnis aus Leistungsfähigkeit, Kosten und Nachhaltigkeit prozesssicher einzubringen. In einer globalisierten Industrie sichern präzise, standardisierte Maße, dass Komponenten und Systeme aus verschiedenen Ländern und Werken problemlos zusammenspielen. Das macht weltweite Lieferketten flexibel und zuverlässig.

Nicht zuletzt ist Präzision die Voraussetzung für Innovation. Immer anspruchsvollere Technologien wie Elektromobilität, Robotik oder Digitalisierung verlangen höchste Fertigungsgenauigkeit und moderne Messtechnik – nur so sind diese Entwicklungen möglich. Extreme Genauigkeit ist der Schlüssel zu zuverlässigen, sicheren und innovativen Produkten. Sie stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und zahlt sich direkt durch mehr Wirtschaftlichkeit und Kundenzufriedenheit aus.

Sie haben die Lieferketten angesprochen: Welche Rolle spielen internationale Einheiten und Normen in einem global agierenden Konzern mit hochkomplexen Lieferketten?
In der heutigen globalisierten Wirtschaft sind internationale Einheiten und Normen unverzichtbar. Sie dienen als gemeinsames Betriebssystem, das Unternehmen, Technik und Handel weltweit miteinander kompatibel macht. Standards wie das SI-Einheitensystem sowie ISO- und IEC-Normen sorgen für eine einheitliche Sprache in Produktion und Handel und verhindern gefährliche Missverständnisse – wie etwa 1999 bei der Mars Climate Orbiter-Mission der NASA (siehe Infokasten), die durch einen Einheitenfehler scheiterte.

Das passiert bei unterschiedlichen Standards

Die Mars Climate Orbiter-Mission der NASA im Jahr 1999 scheiterte, weil es zu einem kritischen Fehler bei der Einheitenumrechnung kam. Das Flugkontrollteam der NASA arbeitete in metrischen Einheiten (Newton-Sekunden für Schubkraft), während der Auftragnehmer Lockheed Martin die Triebwerksdaten in angloamerikanischen Einheiten (Pfund-Kraft-Sekunden) bereitstellte.

Da die Software die beiden Einheiten nicht korrekt miteinander abglich, berechnete die Navigationskontrolle die Position der Sonde falsch. In der Folge flog die Raumsonde beim Eintritt in die Marsatmosphäre viel zu tief, kam der Marsoberfläche gefährlich nahe und wurde zerstört.

Unternehmen profitieren von weltweit gesicherter Produktqualität und vergleichbaren Prüfstandards. Das schafft Transparenz und Vertrauen entlang komplexer Lieferketten. Einheitliche Normen reduzieren außerdem Kosten, indem doppelte Prüfungen oder aufwendige Anpassungen entfallen und Schnittstellen klar definiert sind. Viele internationale Standards sind zudem in nationale Gesetze eingeflossen, was die Einhaltung rechtlicher Vorschriften erleichtert. Sie fördern darüber hinaus Innovation und Interoperabilität, da Kompatibilität bei Maschinen, IT-Systemen und Datenformaten sichergestellt wird.

Unsere mechatronischen Produkte zeigen, wie entscheidend internationale Einheiten und Normen für eine komplexe, weltumspannende Lieferkette sind. Damit Bauteile in einem Gesamtsystem – etwa in der Automobilindustrie oder im Maschinenbau – reibungslos zusammenpassen, sind globale Standards für Maße, Werkstoffe und Schnittstellen unverzichtbar. ISO-Normen wie beispielsweise die ISO 2768 für Toleranzen sorgen dafür, dass Komponenten aus verschiedenen Regionen kompatibel sind. Standardisierte Schrauben und Befestigungselemente nach ISO oder DIN garantieren einen weltweiten Austausch. Einheitliche Prozesse im Qualitätsmanagement, zum Beispiel nach IATF 16949, sichern zudem beständig hohe Standards bei Zulieferern rund um den Globus. Auch ISO-Normen und UNECE-Regelungen im Umwelt- und Sicherheitsmanagement schaffen Vergleichbarkeit und Rechtssicherheit.

Ein weiteres zentrales Argument ist die Fehlervermeidung: Im Automobilbau sind SI-Einheiten und das metrische System verbindlich vorgeschrieben, denn unterschiedliche Maßeinheiten könnten erhebliche Qualitäts- und Sicherheitsrisiken verursachen. Einheitliche Regelungen verhindern derartige Missverständnisse und Fehler. Standardisierung bedeutet außerdem Effizienz und wirtschaftliche Vorteile: Normierte Prüfverfahren reduzieren die Variantenvielfalt, senken Lagerkosten und vermeiden unnötige Mehrfachtests.

Krisen, wie die Halbleiterengpässe von 2021 bis 2023, zeigen besonders deutlich, wie wichtig Normen für die Flexibilität der Branche sind. Nur wenn Zulieferer weltweit nach den gleichen Standards produzieren, können sie gegenseitig einspringen und die Lieferketten absichern.

Internationale Einheiten und Normen sind daher ein zentraler Erfolgsfaktor für Konzerne mit globalen Lieferketten. Sie schaffen Effizienz, Vergleichbarkeit und Vertrauen – und bilden das Fundament für reibungslose, sichere und innovative Produktion weltweit.