Keine Energiewende ohne Molekülwende
Molekülwende – was genau ist damit gemeint?
Seit etlichen Jahren wird viel von der Energiewende gesprochen. Gemeint ist damit bislang jedoch fast immer nur die Stromwende. Aber Strom deckt beispielsweise in den 27 EU-Ländern nur zwischen 14,5 und 39,2 Prozent des Endenergiebedarfs ab, den Rest tragen Moleküle bei, etwa zur Kraft- und Brennstoffversorgung. Eine zunehmende Elektrifizierung in Bereichen wie Verkehr und Wärme wird den Stromanteil wachsen lassen, aber es gibt andere Verwendungen, bei denen sich fossile Moleküle schwer oder gar nicht durch Strom ersetzen lassen, beispielsweise der Fernverkehr in der Luft und auf dem Wasser. Darüber hinaus brauchen wir CO₂-neutrale Kohlenwasserstoffe für die stoffliche Nutzung, insbesondere in der Chemie. Um die Klimaziele zu erreichen, müssen Moleküle für solche Einsatzbereiche künftig CO₂-neutral hergestellt werden.
Das bedeutet: CO₂-neutraler Wasserstoff sowie nachhaltige biogene und synthetische Energieträger und Produkte müssen verstärkt in den Fokus der Energiewende rücken. Solche CO₂-neutralen Moleküle stehen dabei nicht in Konkurrenz zum Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung und einer sinnvollen Elektrifizierung. Es geht vielmehr darum, ergänzend fossile Energieträger und Rohstoffe dort zu ersetzen, wo rein elektrische Antriebe oder Prozesse technisch an ihre Grenzen stoßen oder wirtschaftlich nicht sinnvoll sind.
Endenergieverbrauch ausgewählter EU-Länder
Moleküle dominieren in der Gesamt-EU aktuell mit durchschnittlich über 75 Prozent.
In welchen Bereichen werden CO₂-neutrale Moleküle benötigt?
Die Luftfahrt und die Schifffahrt sind Verkehrsbereiche, die größtenteils auch künftig für flüssige oder gasförmige Energieträger prädestiniert sind. Hier zeigt sich auch die globale Dimension der Herausforderungen. Es ist nicht absehbar, dass Flugzeuge für die Mittel- und Langstrecke oder große Container- und Passagierschiffe batterieelektrisch betrieben werden. Das gilt auch für Landwirtschaft, Feuerwehr, Katastrophenschutz und Militär: Landmaschinen, Lösch- und Bergungsfahrzeuge oder auch Notstromaggregate werden weiterhin flexible und speicherbare Energieträger benötigen. Energiereiche Moleküle werden darüber hinaus für den großen Bestand an Fahrzeugen und Heizungen gebraucht. Trotz fortschreitender Elektrifizierung wird es etwa 2030 bundesweit voraussichtlich weit mehr als 40 Millionen Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotor und auch weiterhin mehrere Millionen Heizungen für flüssige oder gasförmige Brennstoffe geben. Auch dort sind Klimaschutzoptionen notwendig. Zudem sind einfach transport- und speicherfähige flüssige Energieträger für eine resiliente und möglichst flexible Energieversorgung zur Vermeidung von Engpässen und Abhängigkeiten in Krisensituationen enorm wichtig. Mit Elektronen ist zum Beispiel eine nationale Energiereserve im Umfang von 90 Verbrauchstagen, wie sie heute das deutsche Erdölbevorratungsgesetz für Rohöl und Benzin, Diesel, Heizöl und Kerosin verpflichtend vorsieht, nicht realisierbar. Darüber hinaus bleibt die stoffliche Nutzung von Molekülen – insbesondere Kohlenwasserstoffen – für die chemische Industrie und weitere Industriezweige auch künftig unverzichtbar. Sie werden als Einsatzstoffe für die Herstellung einer Vielzahl von Produkten bzw. Vorprodukten benötigt. Wichtige chemische Einsatzstoffe sind beispielsweise Naphtha, Ethylen oder Flüssiggas, die unter anderem für die Erzeugung von Kunst-, Schaum- und Dämmstoffen benötigt werden. Aber auch hochwertige Schmierstoffe beispielsweise für Windkraftanlagen oder Elektromotoren bis hin zu Bitumen für den Straßenbau oder für die Abdichtung von Gebäuden werden bislang vor allem aus Erdöl hergestellt und müssen mittel- bis langfristig CO₂-neutral zur Verfügung stehen.
109.000
Terawattstunden (TWh) CO₂-neutraler Wasserstoff beziehungsweise 87.000 Terawattstunden synthetische Kraft- und Brennstoffe (Power-to-Liquid, kurz PtL) ließen sich laut dem PtX-Atlas 2021 des Fraunhofer-Instituts für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE langfristig theoretisch pro Jahr herstellen. Dieses Gesamtpotenzial könne realistischerweise jedoch nur zum Teil erschlossen werden, sagen die Forscher – unter anderem, weil es mancherorts an der notwendigen Investitionssicherheit oder Infrastruktur mangele. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen kommen die Forscher immer noch auf ein Potenzial von 69.100 TWh grünstrombasiertem Wasserstoff beziehungsweise 57.000 TWh regenerativen PtL-Produkten jährlich. Zur besseren Einordnung: Für die globale Luftfahrt würden 2050 voraussichtlich insgesamt mindestens 6.700 TWh, für den weltweiten Schiffsverkehr 4.500 TWh PtL benötigt.
Woher sollen die CO₂-neutralen Moleküle für all das kommen?
Welche Anteile der benötigten Moleküle etwa aus Biomasse oder synthetisch aus alternativem Wasser- und Kohlenstoff hergestellt und welche Anteile importiert werden, ist von Land zu Land unterschiedlich und lässt sich derzeit nicht genau vorhersagen. Deutschland beispielsweise importiert derzeit rund 70 Prozent der genutzten Energie. Dieser Anteil lässt sich bei Weitem nicht durch erneuerbaren Strom aus heimischen Wind- und Solaranlagen und inländischen biogenen Quellen ersetzen. Deutschland wird also weiterhin ein Energieimportland bleiben – und auch das spricht für grüne Moleküle. Denn der Leitungstransport von Strom über große Entfernungen ist technisch begrenzt. Darum erfordert der Transport erneuerbarer Energie aus dem Sonnen- und Windgürtel der Erde die Umwandlung und Speicherung in Wasserstoff, aber auch dessen Weiterverarbeitung zu Ammoniak, Methanol oder synthetischem Rohöl. Studien zeigen, dass ein globaler Markt für grüne Moleküle eine Win-win-Situation herstellen könnte. Importländer wie Deutschland könnten durch Bau und Export notwendiger Produktionstechnologien genauso profitieren wie die Länder, die CO₂-neutrale Moleküle erzeugen. Auch für Staaten, deren Volkswirtschaften bislang stark vom Export fossiler Energie abhängig sind, würde ein solcher Markt Perspektiven für eine alternative klimaschonende Wertschöpfung eröffnen.
Was fehlt noch zum Durchbruch?
Um die Molekülwende zum Erfolg zu führen, sind enorme Investitionen erforderlich. Hier stehen wir noch am Anfang.
Nehmen wir den Luftverkehr als Beispiel. Dort hat die Politik bereits die Notwendigkeit CO₂-neutraler Moleküle erkannt. Die EU schreibt künftig den Einsatz von Sustainable Aviation Fuels, kurz: SAF, aus biogenen Rohstoffen sowie Power-to-Liquid (PtL)-Treibstoffen verpflichtend vor, und zwar in schnell ansteigenden Anteilen. Wie sich aktuell zeigt, reichen solche verpflichtenden Beimischquoten jedoch offensichtlich nicht, um die jetzt notwendigen Investitionen in die Produktion auszulösen. Das gilt insbesondere für den Aufbau hochkomplexer, innovativer Produktionstechnologien mit hohen Anfangsinvestitionen, die üblicherweise über mindestens 20 Jahre abgeschrieben werden. Dazu gehören PtL-Anlagen zur Herstellung von strombasiertem Kerosin, kurz E-SAF.
Obwohl die E-SAF-Quote der EU 2035 bereits auf fünf Prozent angestiegen sein wird, ist derzeit nicht zu erkennen, dass die dafür erforderlichen Anlagen zeitgerecht zur Verfügung stehen werden. Dies liegt insbesondere daran, dass bei der Skalierung neuer Technologien die ersten Anlagen erfahrungsgemäß teurer produzieren als später umgesetzte Projekte, die auf den Erfahrungen und auch den Fehlern der Pioniere aufbauen können. Die daraus resultierende Kostendegression führt dazu, dass sich die hohen Investitionen in die ersten Anlagen nicht rentieren. Diesem „First-Mover-Disadvantage“ muss entgegengewirkt werden. Quoten können zwar eine Nachfrage erzeugen, aber diese wird am Markt so günstig wie möglich erfüllt. Ein erforderliches Preisniveau kann so nicht abgesichert werden. Ein langfristiger Abnahmevertrag für die Produkte, der sowohl Abnahmemenge als auch Preis garantiert, ist daher in der Regel Voraussetzung für eine Realisierung solcher ersten großen Projekte. Sehr wichtig ist zusätzlich, dass die Politik keine Anwendungsbereiche für grüne Moleküle vorschreibt, sondern eine breite Nachfragebasis für erneuerbare Produkte ermöglicht, um Investitionsrisiken zu minimieren.
Ganz ähnliche Herausforderungen ergeben sich bei der alternativen Kraftstoffproduktion. Hier wäre ein verlässliches und ambitioniertes CO₂-Bepreisungssystem besonders wichtig, um Anreize für Investitionen in den Kapazitätsausbau und eine starke Nachfrage nach CO₂-neutralen Energieträgern und Einsatzstoffen zu schaffen. So wäre vor allem eine an den Umweltauswirkungen ausgerichtete Energiebesteuerung ein wirksamer und vergleichsweise verlässlicher Hebel für den Hochlauf von erneuerbaren Kraftstoffen. Denn aktuell wird jeder Liter Kraftstoff gleich besteuert, unabhängig davon, ob er fossil oder erneuerbar ist. Die Differenz zwischen dem Steuersatz für fossile und für erneuerbare Kraftstoffe könnte wesentlich dazu beitragen, den Unterschied der Herstellungskosten zu reduzieren oder sogar zu kompensieren und würde damit ein klares und in der Höhe relevantes Signal für Investitionen in erneuerbare Moleküle bedeuten.
Über all das wollen und müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft jetzt einen konstruktiven Dialog führen, um die Klimaziele zu erreichen und dabei Deutschland und Europa als starken Wirtschaftsstandort nicht nur zu erhalten, sondern zugleich neue Impulse zu geben, um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu sein.