Wenn Tiere online gehen

Von Björn Carstens
Das Internet der Dinge revolutioniert die Welt – aber was wäre, wenn nicht nur Maschinen, sondern auch Tiere mit dem Web vernetzt wären? Das ist die Vision von ICARUS – einer Technologie, mit der wir Menschen lebenswichtige Erkenntnisse aus der Schwarmintelligenz der Natur gewinnen können.
© Rebelz/iStock

In Erich Kästners berühmter „Konferenz der Tiere“ übernahmen einst Elefanten, Löwen und Büffel die Kontrolle, um das Fehlverhalten der Menschen auszubügeln. Heute, mehr als 75 Jahre später, gibt es eine reale „Konferenz der Tiere“ – wissenschaftlich fundiert und technologisch unterfüttert: das Internet der Tiere – ein globales Netzwerk, das Forschenden erdballumspannend hilft, Tierbewegungen zu verstehen, Ökosysteme zu schützen und Naturkatastrophen vorherzusagen. In „tomorrow“ erklärt der Erfinder dieses Netzwerks, Martin Wikelski, wie er und sein Team Tiere aus dem All beobachten und so gemeinsam das Leben auf der Erde schützen.

Der Experte
Wenn Tiere online gehen© MPI-AB

Martin Wikelski ist ein deutscher Verhaltensbiologe und Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie im süddeutschen Radolfzell am Bodensee. Er gilt als einer der führenden Köpfe in der Erforschung tierischer Wanderbewegungen. Nach seinem Biologie-Studium in Deutschland und den USA forschte er an renommierten Institutionen wie der Princeton University. Wikelski erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg. Sein aktuelles Buch heißt „The Internet of Animals.“ (ISBN: 9783890295619)

Wie funktioniert die Technologie hinter ICARUS?

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Die Basis des Netzwerks bilden winzige Sensoren sowie elektronische Mini-Aufzeichnungsgeräte, die nur wenige Gramm wiegen und an den Tieren befestigt werden. Die Geräte erfassen Unmengen von Daten: GPS-Positionen, Bewegungen, Temperaturen, Beschleunigungen, Umwelteinflüsse und so weiter und so fort. Die gesammelten Informationen werden über das ICARUS-System (International Cooperation for Animal Research Using Space) übermittelt. ICARUS nutzt dafür terrestrische Systeme sowie bis zum Ausbruch des Kriegs in der Ukraine auch die Internationale Raumstation ISS als verstärkende Relaisstation, um selbst die entlegensten Regionen der Erde zu überwachen. Dank künstlicher Intelligenz und Big-Data-Analysen leiten die Forschungsteams aus den Rohdaten wertvolle Vorhersagen ab. 2025 startet die zweite ICARUS-Generation mit einem neuen Empfängersystem auf Kleinsatelliten (CubeSat) – unabhängig von der ISS.

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„Tiere sind die besten Spürnasen für Veränderungen in der Welt. Egal ob im Dienst von Natur oder Mensch. Das wussten schon die Römer, bei denen Gänse vor Überfällen gewarnt haben.“

Martin Wikelski
TV-Doku „Das geheime Wissen der Tiere"

Wem nützt das Internet der Tiere?

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Naturschutz

Durch das Tracking von bedrohten Arten können Schutzgebiete effektiver gestaltet und Wilderei verhindert werden.

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Um bedrohte Arten zu schützen, besendern Martin Wikelski und sein Team mit südafrikanischen Rangern zusammen verschiedene Tierarten mit winzigen, solarbetriebenen Ohrmarken- oder Horn-Sendern, sogenannten Tags. Besonders bedroht sind Nashörner wegen des Gerüchts, dass ihr Horn bei Potenzproblemen hilft. Wikelski: „Tiere können überall andere Tiere schützen, wenn sie uns durch ihr Verhalten sagen, dass Gefahr droht. Tiere sind ehrlich. Wenn sie weglaufen, wenn sie sich aufregen, zur Salzsäule erstarren oder verrückt spielen – ganz unterschiedlich je nach Tierart –, dann weiß man, dass in dieser Gegend etwas nicht stimmt. Wenn dann viele oder alle Tiere entlang eines möglichen Pfads eines Wilderers durchdrehen, dann ist klar, dass nicht lokal ein Löwe oder Leopard alle anderen Tiere aufgeschreckt hat, sondern dass es sich um einen menschlichen Eindringling mit bösen Absichten handelt. So helfen Giraffe, Löwe, Gnu und Zebra, das Nashorn zu schützen. Dann muss nur noch ein unbestechlicher Wildhüter Alarm schlagen.“

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Klimaforschung

Tierbewegungen liefern wertvolle Daten über Umweltveränderungen und helfen, Klimamodelle zu verbessern.

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„Tiere können für uns als Umwelt- und Klimabojen einspringen“, sagt Martin Wikelski. So frage der Deutsche Wetterdienst seit Kurzem Daten von besenderten Störchen ab, die jede Sekunde einen GPS-Datenpunkt sammeln. „Der DWD möchte erfahren, wie die Temperatur von Deutschland bis nach Afrika in verschiedenen Höhen ist. Die Daten der Störche geben zudem Aufschluss über die Stärke der Thermik. Wir können auch die Luftbewegungen in verschiedenen Höhenstrukturen messen und über Solarsensoren den Bewölkungsgrad. In der Zukunft könnte ein dichtes Messnetz von feinkalibrierten Sensoren auf Tieren die Wettervorhersage weltweit stark verbessern“, erläutert Wikelski. „Rußseeschwalben berichten zum Beispiel über den Zustand der Weltmeere und geben durch ihr Flugverhalten Aufschluss darüber, wo der nächste El Niño ausschlägt. An solchen Daten ist die französische Navy besonders interessiert. Vögel zeigen über ihre Bewegungsmuster auch an, wie sich der Grundwasserstand verändert. In Nordostpakistan gibt es zum Beispiel mehrere Zonen, um die Kraniche, die aus der Mongolei kommen, neuerdings einen großen Bogen machen, weil dort das Grundwasser verschwunden ist.“

Ein weiteres Beispiel sind Seeelefanten, die bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten im Auftrag der Klimaforschung in den Weltmeeren unterwegs sind. „Ihre Datensammlungen sind einzigartig und unersetzbar. Sie messen die Wasserströmungen, Temperaturen und Salzgehalte der Weltmeere mit Sendern in Gegenden, in denen andere technische Messsysteme nicht einsetzbar sind“, sagt Wikelski.

Frühwarnsysteme für Naturkatastrophen

Tiere reagieren oft sensibler auf Erdbeben, Tsunamis oder Vulkanausbrüche – ihr Verhalten könnte in Zukunft als Frühwarnsystem dienen.

© SWR/Context-Film/Erik Schimschar

Seit mehr als zehn Jahren beobachten die Max-Planck-Wissenschaftler am sehr aktiven Vulkan Ätna auf Sizilien mithilfe von Tags eine Gruppe von 15 Ziegen, die einen sechsten Sinn zu haben scheinen. Martin Wikelski: „Wir sahen, dass die Ziegen offenbar nervös unter hohen Bäumen standen – ungewöhnlich für die Jahreszeit. Und vor allem für die Tageszeit. Vier Stunden später brach der Vulkan tatsächlich aus. Von den letzten acht großen Ausbrüchen haben wir am Institut sieben vorhergesagt. Ähnliche Erfolge konnten wir auch mit besenderten Kühen, Schafen, Hunden und Hühnern bei der Erdbebenvorhersage in den Abruzzen feiern. Offizielle Warnungen dürfen wir aber nicht aussprechen, wir können nicht den staatlichen Stellen vorgreifen.“

Pandemien frühzeitig erkennen

Wenn Tiere mit Menschen kommunizieren können, können sie Mitstreiter sein im Kampf gegen globale Ausbreitungen

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„Wildschweine wackeln schon drei Stunden nachdem sie sich mit der Schweinepest infiziert haben langsamer mit den Ohren als sonst. Das heißt, wir können über das Ohrwackeln ein sensorisches System für die Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest einführen. Darüber hinaus können wir Wildvögel wie zum Beispiel Singschwäne oder Pelikane, die für bestimmte Arten der Vogelgrippe extrem anfällig sind, besendern und ihren Gesundheitszustand beobachten. Sterben besonders viele Individuen gleichzeitig, dann würde dies einen Pandemie-Alarm auslösen“, erklärt Martin Wikelski.  

Wenn Tiere online gehen
Martin Wikelski
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„Es gibt zahlreiche Tierarten, die möglicherweise essenzielle Informationen für das Überleben der Menschheit in und mit sich tragen. Wir fangen jetzt an, den sechsten Sinn von Tieren zu verstehen. Wir haben ungefähr 30.000 bis 35.000 Tags, also richtige Wearables für Tiere, draußen in der Natur, die täglich ihre Daten in unsere Community-Datenbank schicken.“

  • Ein Vogel bekommt einen der neuen, nur fünf Gramm schweren Satelliten-Sender.
    Ein Vogel bekommt einen der neuen, nur fünf Gramm schweren Satelliten-Sender. © SWR/Christian Ziegler
  • Die Bewegungsdaten der Tiere, die teils mit der Hilfe von Satelliten aus dem All ...
    Die Bewegungsdaten der Tiere, die teils mit der Hilfe von Satelliten aus dem All beobachtet werden, fließen in eine Movebank-App ein. So werden große Zusammenhänge sichtbar. © SWR/Filmtank GmbH/Marco Erbrich
  • Können Tiere Naturkatastrophen spüren, bevor sie passieren? An den Hängen des Vu ...
    Können Tiere Naturkatastrophen spüren, bevor sie passieren? An den Hängen des Vulkans Ätna scheinen einige Tiere schon Stunden vor einem Ausbruch zu flüchten. Verhaltensforscher Martin Wikelski gleicht ihre Daten mit seismischen Signalen ab, die Vulkanologe Boris Behnke vom Institut für Geophysik und Vulkanologie in Catania auswertet. © SWR/Context-Film/Erik Schimschar
  • Zehntausende Flughunde kommen jedes Jahr zwischen Oktober und Dezember im Kasank ...
    Zehntausende Flughunde kommen jedes Jahr zwischen Oktober und Dezember im Kasanka-Nationalpark in Sambia zusammen. Wohin sie danach ziehen, untersuchen Forschungsteams jetzt mit winzigen Hightech-Sendern. © SWR/Context-Film/Harry Vlachos
  • Ein Totenkopfschwärmer auf Sendung: Von Konstanz am Bodensee aus fliegt dieser N ...
    Ein Totenkopfschwärmer auf Sendung: Von Konstanz am Bodensee aus fliegt dieser Nachtfalter in einem Zug über die Alpen zum Lago Maggiore, auf direktem Kurs die ganze Nacht durch. © MPI-AB
Die demokratische Vision der ICARUS-Initiative

„Die Vision ist einfach zu beschreiben: die globale Information der Tiere zusammenzufassen, um vom kollektiven Wissen der Tiere zu lernen und zu profitieren. Wir wollen diesen Informationsgewinn demokratisieren, sodass ein Bauer im Niger oder ein Fischer auf den Galapagosinseln die gleichen Informationen haben kann wie ein Wissenschaftler in Europa. Allen Menschen soll Zugang zum tierischen Informationsschatz ermöglicht werden“, sagt Martin Wikelski, „dann kann jeder über Apps und Algorithmen eigene Warn- oder Informationssysteme für sich selbst kreieren.“

Das Wesentlichste an der Initiative sei, dass die meisten erkannt haben, dass Tiere geschützt werden müssen, wenn oft auch nur aus Eigeninteresse. Wikelski: „Tiere sind für die Menschheit überlebenswichtig. Wir teilen die Welt mit ihnen, und wenn es Tieren nicht mehr gut geht, dann sollten wir aufhorchen. Das Schicksal der Tiere wird letztendlich auch unser Schicksal sein.“