Lernen für eine komplexe Welt
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Dezember 2020

Lernen für eine komplexe Welt

Eine innovationsgetriebene Welt verändert unser aller Leben, das bringt viele Chancen und wenige Risiken mit sich. Fünf Bereiche, auf die sich Bildung und Ausbildung konzentrieren sollten, um die Menschen auf die neue digitale Wissensgesellschaft vorzubereiten.

Was heißt es heute, gebildet zu sein? „Wir leben in einer Welt, in der die Dinge, die leicht zu unterrichten und zu testen sind, auch leicht digitalisiert und automatisiert werden können“, schreibt Prof. Andreas Schleicher, Direktor des Instituts für Bildung und Kompetenzen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), im OECD Lernkompass 2030. In der digitalen Wissensgesellschaft helfen uns Computer, Programme und Algorithmen, das Wissen zu verwalten, auszulagern, miteinander zu verknüpfen und anzuwenden.

Das ist nicht weniger als eine Revolution. Denn damit nimmt der Mensch eine neue Rolle ein: Die des verantwortungsvollen Entscheiders und Impulsgebers, der den Computer als mächtiges Werkzeug benutzt oder gar mit einer künstlichen Intelligenz auf Augenhöhe zusammenarbeitet. Diese neue Rolle verändert auch den Bildungsbegriff: „Erfolg in der Bildung heißt heute nicht nur Sprache, Mathematik oder Geschichte, sondern ebenso Identität, Handlungsfähigkeit und Sinnhaftigkeit“, schreibt Schleicher. Entscheidend sei, dass wir diejenigen Qualitäten finden und verfeinern, die einzigartig für Menschen sind. So ergänzten sich die Fähigkeiten mit denen der Computer und sie stünden nicht in Konkurrenz zueinander. Und die Menschen sind vorbereitet auf Arbeitsplätze, Anwendungen und Alltagsdinge, die heute noch gar nicht existieren.

Vor allem die folgenden fünf teilweise aufeinander aufbauenden und einander ergänzenden Fertigkeiten sollten kultiviert werden, um die Menschen, vom Kleinkind zum Senior, auf die neue digitale Wissensgesellschaft vorzubereiten:

1. Selbstreflektiertes Lernen

Wir können mit dem Smartphone via Internet auf das gesamte Weltwissen zugreifen. Wir können uns am Computer selbst vermeintlich langweilige Dinge in Form eines abwechslungsreichen Erlebnisses aneignen – und dabei auch noch das Tempo selbst bestimmen. Die Digitalisierung bringt uns, wenn man so will, die große Freiheit. Auch beim Lernen. Doch die große Freiheit kann auch zum Problem werden. Wer abschweift, wer nicht weiß, wohin er will und wie er dorthin gelangt, droht im Meer der Möglichkeiten unterzugehen. „Deshalb ist selbstreflektiertes Lernen heute einer der Schlüssel zur Bildung“, sagt Prof. Christian Stamov Roßnagel, Lernforscher an der Jacobs University Bremen.

Selbstreflektiertes Lernen umfasst vor allem zwei Dinge. Erstens: sich vor dem Lernen zwei, drei konkrete Punkte notieren, was man mithilfe des Gelernten können will – ein solches handlungsorientiertes Lernen ist oft nachhaltiger als ein wissensorientiertes Lernen. Zweitens: sich während des Weges und am Lernziel selbst kontrollieren, ob man mit dem Stoff tatsächlich „arbeiten“ kann. „Das ist weit weniger selbstverständlich, als es sich anhört“, sagt Stamov Roßnagel. Er arbeitet mit großen Unternehmen zusammen und sieht immer wieder, dass damit Menschen jeden Alters Probleme haben. „Wir versuchen dann, die Menschen in der Fortbildung zu unterstützen. Ein bewährter Selbsttest: Kann ich diese Lektion in drei Sätzen zusammenfassen? Und: die häufig sehr verdichteten Kernaussagen des Lernstoffs konkretisieren. Ein Beispiel: „Riementriebe halten sehr hohen Belastungen stand“ als Kernaussage. Hier wären Selbsttestfragen je nach Lernziel: In welchen Einsatzbereichen treten solche Belastungen auf? Wie messe ich die Belastungshöhe? „Die Grundlage für reflektiertes Lernen wird aber idealerweise schon im Unterricht in der Schule gelegt“, sagt Stamov Roßnagel.

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2. Empathie

In einer strukturell unausgeglichenen Welt bringt Vielfalt immer auch Unterschiede mit sich, die trennend wirken. Die Digitalisierung kann dies verschärfen: „Heutzutage sortieren uns die Algorithmen der sozialen Medien in Gruppen von Gleichgesinnten. Sie schaffen virtuelle Blasen, die unsere eigenen Ansichten verstärken und uns von divergierenden Perspektiven isolieren; sie homogenisieren Meinungen und polarisieren unsere Gesellschaften“, schreibt OECD-Experte Schleicher. Eine Schlüsselkompetenz, um dies zu verhindern, ist Empathie, also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.

Empathie ist aber mehr als ein gesellschaftlicher Brückenbauer. Ob im Job, zu Hause oder in der Gemeinschaft, ob als Wissenschaftler, Bankdirektor, Arbeiter oder Künstler – wir benötigen dieses Verständnis für andere, um situativ agieren und kooperieren zu können. Und gerade weil wir Menschen auf unbestimmte Zeit empathischer sind als Maschinen, werden Kompetenzen in diesem Bereich immer wichtiger am Arbeitsmarkt. Empathie ist aber nicht nur Bildungsziel, sie ist auch eine Schlüsselkompetenz für den Erklärenden. Denn die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ist die Grundvoraussetzung, die wir benötigen, um anderen Menschen Dinge zu erklären und sie anleiten zu können.

3. Auf integrierende Weise denken lernen

Gleichheit oder Freiheit? Unabhängigkeit oder Solidarität? Effizienz oder demokratische Prozesse? Innovation oder Beständigkeit? Solche Spannungsfelder gewinnen in einer stark vernetzten Welt noch mehr an Bedeutung. Die zunehmende Komplexität sorgt dafür, dass sich dabei auch Dilemmata häufen. Umso wichtiger ist es, integrierend denken zu können und Wege zu finden, um das „oder“ in Gegensatz-Paaren durch ein „und“ zu ersetzen.

Der Weg, um diese Kompetenz von Lehrseite zu vermitteln und auf der Lernseite zu erlangen, liegt darin, Komplexität und Vielschichtigkeit und deren Wirkungsweisen bewusst zu behandeln. So können holistische Systeme bereits in der Schule aktiv erarbeitet werden, etwa die Verknüpfung von Wasser, Energie und Nahrungsmitteln. Wenn die Schüler hier nach verschiedenen Möglichkeiten für Veränderungen suchen und die jeweiligen Auswirkungen diskutieren und durchdenken, „schulen sie ihre Fähigkeit, erfolgreich mit der Verschiedenartigkeit von Lösungen und mit Mehrdeutigkeiten umzugehen“, heißt es dazu im OECD Lernkompass 2030.

4. Fähigkeit zum aktiven Handeln

Die Dinge zu verstehen ist der erste wesentliche Schritt. Sie zu beeinflussen und zu verändern ist der zweite Schritt. Dass Lernende dies tun oder es zumindest versuchen, ist nicht selbstverständlich. Es braucht eine entsprechende Kompetenz. Im OECD Lernkompass 2030 wird diese Fähigkeit „Student Agency“ genannt: „Es geht darum, selbstbestimmt zu handeln, anstatt von anderen bestimmt zu werden; die eigene Umwelt zu gestalten, anstatt sie als gegeben hinzunehmen, verantwortungsvoll zu entscheiden und zu wählen, anstatt Entscheidungen von anderen hinzunehmen“, heißt es im Lernkompass.

Der Weg dorthin beginnt schon im Kleinkindalter: Wenn ein Kind erfährt, dass seine Handlungen dem Umfeld nicht egal sind, sondern dass es damit etwas bewirken kann, entwickelt es ein Gefühl der Selbstwirksamkeit – die Basis für die spätere Student Agency. In der Schulzeit kann dies weiter ausgebaut werden durch das eigenständige Erarbeiten und Setzen von Schwerpunkten. Auch Mitbestimmung und demokratische Prozesse in der Schule können förderlich sein: Schüler, die den Schulgarten mitgestalten, lernen dadurch aktives Handeln, das ihnen später in Beruf und Alltag zugutekommt.

Auch Lernforscher Stamov Roßnagel von der Jacobs University Bremen sieht Selbstmanagementfähigkeiten als ein primäres Bildungsziel an – über alle Altersgruppen hinweg. Bei seinen Studierenden fördert er vor allem die Fähigkeit, evidenzbasierte Entscheidungen zu fällen und auf dieser Basis Probleme zu lösen, Entscheidungen zu fällen und neue Ansätze zu entwickeln – Fähigkeiten, die später im Beruf gefragt sind, unabhängig von Position oder Branche. Das beste Mittel dafür sei es, die Studierenden ab dem ersten Semester aktiv in die Forschung und die forschungsgestützte Beratung einzubinden, sagt der Professor.

Beispiele für zukünftige Berufsfelder und passende Bildungsschwerpunkte

Lernen für eine komplexe Welt
Quelle: OECD Lernkompass 2030
5. Ethik als Entscheidungskompass

Wer entscheidet, wer handelt, der kann etwas bewegen – in verschiedene Richtungen. Deshalb übernimmt man beim Handeln immer auch Verantwortung. Diese Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen sollte unmittelbar zum Handeln dazugehören. Im OECD Lernkompass 2030 heißt es dazu: „Verantwortungsübernahme verlangt einen starken moralischen Kompass, Kontrollüberzeugung und persönliche Integrität, sodass Entscheidungen auf der Grundlage davon getroffen werden, ob die daraus resultierenden Handlungen zum allgemeinen Nutzen anderer führen.“

Um dies zu schaffen, muss man sich vor und nach dem Handeln kritische Fragen stellen, aus denen man für die Zukunft lernt: Was soll ich tun? War es richtig, das zu tun? Wo liegen die Grenzen? Wenn ich die Konsequenzen meines Handelns nachträglich bedenke, hätte ich es so oder anders machen sollen? Dies sollten alle Teile des Bildungssystems versuchen zu vermitteln und zu fördern: Eltern wie Erzieher, Lehrer wie Dozenten.

Drei Fragen an …

… Paul Seren, Ausbildungsleiter Schaeffler Deutschland

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Industrie 4.0, Digitalisierung, die Arbeitswelt verändert sich immer schneller. Unternehmen sind aufgefordert, ihre Ausbildung anzupassen. Worauf kommt es an?
Industrie 4.0 bedeutet, dass alles miteinander vernetzt ist – nicht nur die Maschinen, sondern insbesondere die Mitarbeitenden. So entsteht auch die Erwartungshaltung an neue Mitarbeitende, dass sie über den Tellerrand hinausblicken können und vor allem auch wollen. Schaeffler ermutigt daher Auszubildende und Studierende, flexibel zu denken. Sie sollten die Bereitschaft mitbringen, Veränderungen managen zu können, um heute antrainierte Dinge morgen über den Haufen zu schmeißen, um etwas ganz Neues zu lernen. Das gilt übrigens auch für Ausbilder, die immer wieder in Hinblick auf auf die persönliche Veränderungbereitschaft durch Schulungen sensibilisiert werden müssen.

Unter diesen Voraussetzungen: Wie passt Schaeffler seine Ausbildungsinhalte an, um mit dem technologischen Fortschritt mitzuhalten?
Schon seit vier Jahren kann jeder Auszubildende in Deutschland – egal, ob in einem gewerblich/technischen oder einem kaufmännischen Beruf – während seiner Lehrzeit einen funktionsfähigen 3D-Drucker bauen. Mit allem, was dazugehört. Networking ist dabei ein wichtiges Thema. Der angehende Mechatroniker kommuniziert mit dem Industriekaufmann, der Software-Entwickler mit dem Industriemechaniker. Standortübergreifend. So werden neben der Förderung der ausbildungsbegleitenden Teamarbeit weiter versteckte Potenziale erkennbar. Diese Form der Ausbildung bei Schaeffler ist mittlerweile auch schon erfolgreich in den USA und Osteuropa angelaufen, bald soll sie auch nach China exportiert werden.

Virtual Reality und Augmented Reality werden zentrale Instrumente in der Ausbildung werden

Paul Seren

Mit welchen weiteren Innovationen will Schaeffler Auszubildende fit machen für die Zukunft?
Virtual Reality und Augmented Reality werden zentrale Instrumente in der Ausbildung werden. Virtuelle Schweißsimulatoren sind schon länger im Einsatz, der ganze Bereich hat aber mehr Potenzial – vor allem in der Fertigung. So lässt sich die Handhabung sowie das Bestücken und Reparieren von Maschinen virtuell trainieren. Eine wichtige Innovation auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir wohl noch länger auf die Einhaltung der Abstände achten müssen.

Christian Heinrich
Autor Christian Heinrich
Christian Heinrich beschäftigt sich seit mehr als einem Jahrzehnt bei der Wochenzeitung Die Zeit mit Bildungsthemen. Seit 2014 betrifft das Thema ihn auch ganz persönlich: Damals kamen seine Zwillinge zur Welt. Die letzte Entscheidung, die er in Bezug auf ihre Bildung treffen musste, liegt nur wenige Monate zurück: Vorschule oder Kita-Brückenjahr. Er hat sich für Vorschule entschieden.