So geht Lernen im KI-Zeitalter
Herr Dr. Iemmolo, wie verändert sich das Lernen, wenn KI-Tools Teile oder sogar den kompletten Kreativprozess übernehmen?
Ich sehe KI nicht als Feind, sondern als innovatives Werkzeug. Deswegen ist das Problem nicht das Tool an sich, sondern wie wir es benutzen. Denn wenn wir beispielsweise schreiben, dann denken und kommunizieren wir gleichzeitig. Schreiben ist nicht das Endprodukt des Denkens – es ist das Denken selbst. Sobald KI-Tools für uns das kreative Arbeiten übernehmen, ist das vielleicht effizient, aber es fehlt die kognitive Reibung, die für echtes Verstehen nötig ist. Lernen ist wie ein Training im Fitnessstudio: Man muss ein bisschen schwitzen.
Der Experte
Dr. Giorgio Iemmolo ist Linguist und Direktor des Sprachenzentrums der ETH Zürich und der Universität Zürich. In „tomorrow“ erklärt er, warum KI weder Feind noch Allheilmittel ist – und warum das Schreiben von Hand vielleicht unsere letzte Bastion gegen gedankenloses Lernen bleibt.
Wo sehen Sie sinnvolle Effizienzgewinne durch KI – und wo beginnt der Kompetenzverlust?
KI kann helfen, Ideen anzustoßen, Texte zu strukturieren oder als Spiegel zu dienen. Aber wenn wir sie als Ersatz für das Denken benutzen, verlieren wir die Fähigkeit zur Reflexion. KI-Texte sind oft kohärent, aber flach – sie beruhen auf statistischen Wahrscheinlichkeiten, nicht auf Erkenntnis. Wenn Nutzerinnen und Nutzer diese Texte einfach übernehmen, verlernen sie, Sprache und Denken aktiv zu verbinden.
Welche Methoden empfehlen Sie, um KI sinnvoll in den Lernprozess einzubinden?
Ich lasse meine Studierenden etwa mit KI schreiben – aber nur, um zu analysieren, was fehlt. Sie sollen reflektieren: Warum klingt ein Text gut, aber bleibt inhaltlich hohl? Diese Meta-Kompetenz, den Unterschied zwischen klingender und tragfähiger Argumentation zu erkennen, ist zentral.
Welche Prüfungsformate fördern denn eigenständiges Denken trotz KI?
Ich arbeite daran, Prüfungen stärker mündlich und prozessorientiert zu gestalten. In Italien, wo ich studiert habe, verteidigt man fast jede Prüfung mündlich. Das zwingt zum Nachdenken. Ich möchte, dass Studierende ihre Arbeit nicht nur abgeben, sondern erklären können: Warum habe ich das so geschrieben? Welche Quellen habe ich genutzt? Diese Selbstreflexion ist viel aussagekräftiger als eine fertige PDF-Datei.
„KI ist ein Werkzeug. Aber Denken, Verstehen und Verantwortung – das bleibt menschlich."
Dr. Giorgio Iemmolo
Welche Rolle spielt das Schreiben von Hand heute noch?
Eine sehr große. Viele Mathematiker oder Ingenieure an der Technischen Hochschule in Zürich schreiben Formeln noch mit der Hand, obwohl sie längst digitale Tools hätten. Warum? Weil man beim Schreiben entscheidet, was wichtig ist. Handgeschriebenes zwingt zum Nachdenken – und genau das brauchen wir auch beim sprachlichen Ausdruck.
Sollten Schüler und Studierende wirklich weiterhin klassische Hausarbeiten schreiben?
Ja, unbedingt – aber mit einer Änderung: Wir sollten den Prozess stärker bewerten, nicht nur das Produkt. Eine gute Hausarbeit entsteht in Etappen: Recherche, Reflexion, Schreiben, Überarbeiten. Dazu gehört heute auch der Umgang mit KI. Schüler und Studierende könnten ihre Prompts dokumentieren, ihre Nutzung reflektieren und zeigen, was sie daraus gelernt haben. Wichtig ist, dass Lehrende diese Prozesse erkennen und bewerten lernen.
Wie groß ist die Gefahr, dass wir verlernen zu verstehen, was wir schreiben, wenn wir zu sehr auf KI setzen?
Die Gefahr sehe ich. Wer nur generiert, ohne selbst zu reflektieren, verliert die Fähigkeit, Wissen zu festigen. Dass Schreiben Denken ist, stützt auch die Neurowissenschaft: Es bilden sich beim Schreiben neuronale Verbindungen, die für Abstraktion und langfristiges Erinnern entscheidend sind. Vor allem, wer von Hand schreibt, aktiviert Gehirnregionen, die tiefes Lernen und das Denken in Konzepten ermöglichen. Schreiben hilft dem Gehirn, große Zusammenhänge zu erkennen und ein Fachwissen auszubilden, das nicht nur von Fakten lebt, sondern auf Verständnis fußt und in vielen unterschiedlichen Kontexten anwendbar ist. Die Forschung zur Automatisierung weiß, dass kognitive Systeme verkümmern, wenn Denkaufgaben an Maschinen ausgelagert werden. Und es gibt noch einen zweiten Stolperstein: Die Erzeugnisse von generativer KI imitieren Wissen gekonnt und verschleiern so unsere schwindenden Kompetenzen. Wir klingen eloquent, ohne wirklich zu verstehen und ohne zu merken, dass wir nicht verstehen.
Sollten wir „KI-freie Lernphasen“ einführen?
Ja, unbedingt. KI-freie Phasen schaffen Bewusstsein für das eigene Denken. Das kann beispielsweise in der Schule oder an der Uni eine handschriftliche Prüfung sein, eine mündliche Verteidigung oder kurze Reflexionstexte, in denen Schüler und Studierende ihren Lernprozess festhalten. Wichtig ist in allen Bereichen des Lebens, in denen wir Wissen aufbauen, dass es Raum gibt für das Unvollkommene – für die Reibung, aus der Erkenntnis entsteht.
Wie erkennen Empfänger, egal ob beispielsweise Lehrer oder Personalabteilungen, ob ein Text noch vom Absender selbst stammt?
Ehrlich gesagt: KI-Detektoren funktionieren kaum. Ich verlasse mich lieber auf Gespräche. Fünf Minuten Diskussion sagen mir mehr über das Verständnis einer Person als jede Software. Wenn jemand seinen eigenen Text nicht erklären kann, weiß ich genug.
„Wir müssen die alten geisteswissenschaftlichen Tugenden neu schätzen lernen. Reflexion, Argumentation, Mehrdeutigkeitstoleranz."
Dr. Giorgio Iemmolo
Welche Kompetenzen brauchen wir im KI-Zeitalter?
Vor allem Urteilsvermögen. KI-Kompetenz heißt für mich nicht, jedes Tool zu beherrschen, sondern zu wissen, wann und wofür ich es einsetze. Sprachliche Präzision, kritisches Denken, kommunikative Fähigkeiten – das sind die Kompetenzen, die wichtiger werden. Und: Wir müssen die alten geisteswissenschaftlichen Tugenden neu schätzen lernen. Reflexion, Argumentation, Mehrdeutigkeitstoleranz – sie sind das Fundament für jede technische Zukunft.
Haben Sie Angst vor der nächsten KI-Generation?
Nein, ich habe keine Angst vor KI. Ich habe manchmal Angst vor dem Diskurs über KI – wenn sie als Retter oder als Bedrohung dargestellt wird. Beides ist falsch. Wir sollten weder in Euphorie noch in Panik verfallen. KI ist ein Werkzeug. Aber Denken, Verstehen und Verantwortung – das bleibt menschlich.