Räume der Stille
Leise und vibrationsarme Maschinen oder Fahrzeuge sorgen für eine angenehme Arbeitsatmosphäre oder vermitteln ein Gefühl von Komfort und Luxus. Und sie tragen zur Sicherheit bei, weil sie Ablenkungen reduzieren. Oft mit Geräuschen einhergehende Vibrationen können obendrein die Lebensdauer von Produkten erheblich einschränken und beispielsweise im laufenden Betrieb einer Produktionsanlage zu erheblichen Kosten führen. Hersteller betreiben also nicht von ungefähr einen sehr großen Aufwand, um ihre Produkte akustisch und vibratorisch immer weiter zu optimieren.
Beim Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler beschäftigen sich mehr als 200 Personen mit dem Thema NVH. Die Abkürzung steht für die englischsprachigen Begriffe Noise, Vibration und Harshness, also Geräusch, Vibration und der subjektiven Wahrnehmung der beiden.
NVH-Messungen sind komplex und erfordern spezielle Bedingungen. Schaeffler hat daher in seine Entwicklungsprozesse Test- und Analysemethoden in Hightech-Akustik-Labore integriert, die zu den leisesten Orten der Welt zählen – die Basis, um präzise und reproduzierbare Ergebnisse zu liefern.
Den Akustikern bei Schaeffler stehen für ihre aufwendigen NVH-Tests weltweit ein gutes Dutzend dieser schalltoten Räume zur Verfügung, fünf davon am Schaeffler-Stammsitz in Herzogenaurach. Wie leise ist es dort wirklich? Ist dort die fallende Stecknadel zu hören? „Der Fall eher nicht, aber auf jeden Fall der Aufprall“, lächelt Prof. Pecher, der bei Schaeffler die Forschungs- und Entwicklungsbereiche Kompetenzzentrum Akustik und Systemanalyse Chassis leitet. „Und dazu ist nicht einmal unsere empfindliche Sensorik nötig.“ Menschen, die in einem solchen schalltoten Raum stehen, können sogar ihr Blut durch den Körper rauschen hören.
Der Experte
Der Schaeffler-Mitarbeiter Prof. Dr.-Ing. Alfred Pecher ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet „Noise, Vibration and Harshness“ und war maßgeblich am Aufbau des Kompetenzzentrums für Akustik von Schaeffler in Herzogenaurach beteiligt. Außerdem ist Prof. Pecher Lehrbeauftragter der Fakultät Maschinenbau an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt sowie Kuratoriumsvorsitzender des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie IDMT.
Apropos empfindlich: Bei den Versuchen haben Störgeräusche Hausverbot! Lüfter von Rechnern müssen sich während der Messungen abschalten lassen, Armbanduhren dürfen nicht getragen werden. Selbst normale Lichtquellen verursachen Schwingungen, die wir Menschen nicht hören können, die aber die empfindliche Messtechnik aufzeichnen würde.
Hoher technischer Aufwand
Um Akustikräume wie die von Schaeffler nahezu schalltot zu bekommen, bedarf es eines hohen technischen Aufwands. Spezielle Absorber aus offenporigen Schäumen an Decken und Wänden absorbieren die dort auftreffenden Schallwellen. Die komplette Raumstruktur, also sowohl der gegossene Boden wie auch die gegossene Decke und die gemauerten Wände sind aus hochverdichtetem Material gebaut, um strukturelle Weiterleitungen von Vibrationen zu verhindern. So können auch externe Vibrationen die Messungen nicht verfälschen.
Um die Akustik sich bewegender Produkte wie Lager, Getriebe oder Hybridmodule zu untersuchen, sind die Antriebe als potenzielle Störquelle deshalb in einem weiteren schallisolierten Raum untergebracht und über eine Welle mit dem Prüfling verbunden.
Vom Rest des Gebäudes entkoppelt
Diese Entkopplung ist auch bei dem zweiten Messgebiet relevant, den Vibrationen. Um Körperschall zu vermeiden, sind einige der Messräume von der Gebäudestruktur entkoppelt. Sie haben keinen harten Kontakt zum Gebäudefundament und stehen auf Federn, die für die relevanten Frequenzen undurchlässig sind. Auch die Wände und die Decke eines solchen Raumes sind von den anderen Gebäudeteilen durch einen großzügig dimensionierten Luftspalt entkoppelt. „So verhindern wir Körperschalleintragungen oder Weiterleitung von Vibrationen von außen in den Raum, was die Messungen erheblich verfälschen und schlimmstenfalls nicht auswertbar machen würde“, sagt Prof. Pecher.
Präzise Messungen zur Geräuschreduzierung
Präzise NVH-Messungen bedeuten, dass sich selbst kleinste Geräusche und Vibrationen erfassen und analysieren lassen. Die Genauigkeit solcher Messungen kann im Bereich von Mikro-Pascal (µPa) für Schallpegel und Mikro-G (µg) für Vibrationen liegen. Damit kann der Beginn von Rissbildungen in Materialien nachgewiesen werden. Prof. Pecher und sein Team messen verschiedene Parameter, darunter Schwingungspegel (Luft- und Köperschall), Frequenzspektren und psychoakustische Größen. Hochsensible Mikrofone erfassen selbst leiseste Töne und solche, deren Frequenzen für das menschliche Ohr nicht hörbar sind.
Mit einem Blick auf das aufgezeichnete Frequenzspektrum können die Akustiker den Klang eines Geräusches sezieren. Welche Frequenzen dominieren, welche kann man ignorieren? Dies ist wichtig, um gezielt Maßnahmen zur Geräuschreduktion zu entwickeln. Aber Pecher und seine Kollegen sind nicht nur Geräuschreduzierer. Sie sind – wenn man so will – auch Geräuschkomponisten. „Uns geht es nicht nur um die Lautstärke von Geräuschen, sondern auch um ihre Qualität“, sagt der Experte. Tiefe Töne beispielsweise sind für das menschliche Gehör angenehmer als hohe oder gar schrille.
Schall und Vibrationen sichtbar machen
Sind es bei Tönen hochsensible Mikrofone, die ihre Ohren spitzen, setzen die NVH-Profis von Schaeffler zur Vibrationserkennung und -analyse sogenannte Laser-Doppler-Vibrometer (LDV) ein. Auch sie sind echte Sensibelchen und ermöglichen Auflösungen von Nanometer-Amplituden, also Schwingungen in der Größenordnung, die nicht mal dem Durchmesser des Corona-Virus entsprechen. Weiterer Vorteil: Laserlicht als Sensor beeinflusst das Messobjekt nicht, ist also rückwirkungsfrei, und erlaubt deshalb Messungen auf kleinsten und leichtesten Strukturen. Wie geschrieben: echte Sensibelchen.
Auch Schallquellen machen die Schaeffler-Experten sichtbar: mit einer Akustik-Kamera. Diese zeigt, woher Geräusche kommen. NVH-Ingenieurinnen und -Ingenieure nutzen diese Technologie, um gezielt Schallquellen zu identifizieren.
Know-how entscheidend, KI hilft
Die beste Ausrüstung und Technik nützt aber nichts, wenn es bei Testaufbau und -durchführung sowie der anschließenden Analyse von Frequenzspektren, Schallpegeln und Vibrationen hapert. Prof. Pecher weiß, „dass die Durchführung und Analyse von Akustik-Messungen ein tiefes Verständnis der Physik und Technik von Schall und Vibrationen erfordert.“
Neben dem eigenen Know-how greifen Pecher und seine Kollegen auch vermehrt auf künstliche Intelligenz (KI) zurück. KI-Algorithmen können schneller und präziser als jeder noch so geschulte NVH-Profi große Datenmengen analysieren, Muster erkennen und Vorhersagen treffen – damit es um Prof. Pecher und sein Team noch stiller wird.