„Süchtig nach neuen Herausforderungen“
Das Schwerpunktthema dieser „tomorrow“ ist Pioniergeist. Können Sie diesen „Geist“ für uns mit wenigen Worten einfangen?
Pioniergeist bedeutet für mich das generelle Streben des Menschen nach neuen Herausforderungen, nicht nach mehr Erfolg und Reichtum.
Ist dieser Geist eher weiblich oder eher männlich?
Weder noch. Er ist personen- und nicht geschlechtsbezogen.
Wann wurde Ihnen zum ersten Mal Ihr eigener Pioniergeist bewusst?
Der war von Anfang an da. Ich habe mich seit ich mich erinnern kann schon immer sehr für Neues interessiert – ganz besonders für Technik und Abenteuer.
Wenn der Pioniergeist nicht wie bei Ihnen von Anfang an da ist, kann man ihn erlernen?
Eher nicht. Aber ich glaube, in jedem Menschen stecken Neugier und Pioniergeist. Man muss beides nur immer wieder aufs Neue erwecken und trainieren. Wenn du deinem Pioniergeist folgst, kannst du all deine Inspiration und Motivation natürlich ausbauen und deine Ziele erreichen.
Um Physikunterricht haben zu können, sind Sie als Kind mit einer Sondergenehmigung auf eine Jungenschule gegangen. Haben Sie sich da schon als Pionierin gefühlt?
Als Pionierin habe ich mich damals nicht gefühlt, obwohl ich natürlich eine war. Ich wollte unbedingt Physik lernen. Das hat mich einfach mehr interessiert als alles andere. Deshalb habe ich dafür gekämpft und das durchgesetzt. Die Jungs haben mich als einziges Mädchen sofort akzeptiert und sogar zur Klassen- und Schulsprecherin gewählt. Ich war keine Außenseiterin, ganz im Gegenteil.
Wie sind Sie zum Marathon-Rallyesport gekommen, wo Sie vor allem durch Ihren Sieg als erste und bis heute einzige Frau bei der Rallye Dakar im Jahr 2001 Motorsportgeschichte geschrieben haben?
Antrieb waren für mich vor allem meine Abenteuerlust, meine Liebe zu neuen Technologien und zum Wettbewerb. Diese Kombination fand ich bei Marathon-Rallyes– erst auf dem Motorrad, dann im Automobil.
Die Königin der Wüste
1962 in Köln geboren, wuchs Jutta Kleinschmidt in Berchtesgaden auf. Motto: lieber Baumhäuser als Puppenhäuser. Nach ihrem Physikstudium (1986–1992) heuerte sie als Diplom-Ingenieurin in der Motorradentwicklung von BMW an. Parallel bestritt sie 1987 ihre erste Marathon-Rallye auf dem Motorrad. 1992 wurde Kleinschmidt Profi-Rennfahrerin und wechselte 1994 ins Rallye-Auto. 2001 dann ihr größter Erfolg: Als erste und bis heute einzige Frau gewinnt sie die Dakar-Rallye – Partner für den Antrieb ihres Mitsubishi Pajero ist die Schaeffler-Marke Luk. 2002 bis 2006 ist sie Werkspilotin von Volkswagen und als Entwicklerin eine tragende Säule des Dakar-Projekts der Niedersachsen. Auch bei diesem Projekt ist LuK Partner. 2005 schrieb Kleinschmidt dabei erneut Motorsportgeschichte: Als Dakar-Dritte erkämpfte sie den ersten Podestplatz eines Dieselfahrzeugs bei dem Klassiker. 2007 bestritt sie in einem BMW ihre letzte Dakar, es folgen sporadische Motorsporteinsätze. Kleinschmidt tritt verstärkt als erfolgreiche Vortragsrednerin auf und ist seit 2019 Präsidentin der Cross Country Rally Commission des Automobil-Weltverbandes FIA. 2021 feierte die Deutsche ein überraschendes Comeback in der rein elektrischen Offroad-Rennserie Extreme E. Im Team ABT CUPRA XE wechselte sie sich mit Mattias Ekström am Steuer des e-CUPRA ABT XE1 ab – auch hier ist Schaeffler als Teampartner mit an Bord.
Wie gefällt Ihnen die Rolle als Vorreiterin und Vorbild, die Sie durch Ihre gesamte Vita seit mittlerweile mehr als 20 Jahren auch für junge Frauen haben?
Diese Rolle war nie mein Ziel. Ich bekam sie durch das, was ich gemacht und erreicht habe. Natürlich ist es positiv und schön, wenn ich speziell Frauen und Mädchen motiviere, in die Technologie und in den Motorsport zu gehen, ihre Träume zu verfolgen und zu verwirklichen.
Hatten Sie selbst weibliche Vorbilder wie die ersten Rennfahrerinnen Clärenore Stinnes und Pat Moss oder die Sportfliegerin Elly Beinhorn?
Ich hatte nie das eine Vorbild, sondern habe mir von einer Reihe sehr versierter und begabter Menschen all das abgeschaut, was mir nützlich ist beim Verwirklichen meiner Träume und Ziele.
Natürlich ist es positiv und schön, wenn ich speziell Frauen und Mädchen motiviere, in die Technologie und in den Motorsport zu gehen, ihre Träume zu verfolgen und zu verwirklichen.
Jutta Kleinschmidt
Wollten Sie als Ingenieurin und Motorsportlerin primär sich etwas beweisen oder den anderen?
Es ging vor allem um mich. Aber es ging nicht ums Beweisen, sondern darum, meine Grenzen auszuloten und auch zu überschreiten. Ich wollte herausfinden: Was kann ich überhaupt leisten? Gerade im von Männern dominierten Motorsport ging es mir auch darum: Warum soll ich als Frau das nicht auch machen und schaffen können? Mich hat nicht abgeschreckt, dass es nur wenige und nur wenige sehr erfolgreiche Frauen im Motorsport gab. Ich wollte das für mich ausprobieren und dann selbst entscheiden, ob ich Motorsport kann oder nicht.
Wo haben Sie als Rennfahrerin Grenzen bewusst überschritten?
Das waren vor allem körperliche Grenzen. Marathon-Rallyes sind superanstrengend. Vor so manchem Start war es nur schwer vorstellbar, dass die bevorstehenden Strapazen machbar sind. Ich hab’s trotzdem immer irgendwie hinbekommen. Und ich habe so nicht nur herausgefunden, was körperlich alles machbar ist, sondern auch, was du mental alles schaffen kannst in superanstrengenden und dadurch zeitweise auch supernervigen Situationen. Richtig kennen lernst du dich und andere erst, wenn es an und über die Grenzen geht.
Wer wagemutig ist, geht zwangsläufig Risiken ein. Wie sieht Ihr persönliches Risikomanagement aus?
Ich habe immer versucht, so nah wie möglich an definierte Limits zu kommen. Beim Rallyefahren zum Beispiel habe ich immer hinterfragt: Was kann mein Auto, was gibt die Strecke her? Da war ich immer sehr kalkuliert. Natürlich habe auch ich Situationen falsch eingeschätzt. Dann hat es manchmal auch gekracht.
Machte Erfolg die Motorsport-Pionierin Jutta Kleinschmidt satt oder noch hungriger auf mehr?
Wenn ich Erfolg habe, muss ich den nicht wiederholen. Ich setze mir immer neue Grenzen, neue Ziele. Ich bin süchtig nach neuen Herausforderungen – nicht nur im Motorsport.
Was haben Sie bei Ihren vielen Wüstenrallyes fürs Leben gelernt?
Die kleinen Probleme zu Hause nicht mehr so ernst zu nehmen. Wenn ich mich heute über alltäglichen Kleinkram aufrege oder deshalb verrückt mache, frage ich mich ganz bewusst: Wie wichtig ist das jetzt eigentlich? Meist merke ich dann: Es ist ja gar nicht so wichtig, ich mache da nur gerade einen Elefanten draus. Gelernt habe ich im Motorsport aber auch, all die kleinen Dinge mehr zu genießen – Faulenzen, Fernsehen und vor allem die Schönheit der Natur, egal ob in der Wüste, am Meer, in den Bergen oder bloß am Straßenrand.
Sie arbeiten mittlerweile auch als vielgebuchte Rednerin. Eines Ihrer Vortragsthemen: „Mit mentaler Stärke zum Erfolg.“ Wie kann man verhindern, an sich zu zweifeln? Oder sind Selbstzweifel manchmal sogar hilfreich?
Das ist ein sehr spannendes Thema. Ich bin zum Beispiel sehr selbstkritisch. Das ist gut und schlecht. Gut daran ist: Dadurch bereite ich mich sehr gut auf meine Aufgaben vor. Schlecht daran ist: Mich überkommen immer wieder Selbstzweifel. Umso wichtiger ist für mich die äußere wie innere Vorbereitung. Das war für mich schon im Motorsport ganz entscheidend. Deshalb habe ich körperlich mehr trainiert und versucht, die Technik meines Autos ganz besonders gut zu verstehen und zu kennen. Vorteile habe ich mir in meiner Rennkarriere besonders dadurch erarbeitet, dass ich bestens vorbereitet war. Das verhalf mir zu der nötigen mentalen Stärke im Wettbewerb. Geholfen hat mir auch immer sehr die Analyse der Ursachen für meine Fehler und die daraus folgenden Selbstzweifel. So konnte ich gezielt meine Schwächen reduzieren, mein Selbstbewusstsein stärken und immer besser werden.
Als erfahrene Ingenieurin in der Entwicklung von Serien- wie Rennfahrzeugen: Welche Pioniertaten der Mobilitätsgeschichte beeindrucken Sie?
Da fällt mir Bertha Benz ein. 1888 hat sie als erster Mensch eine längere Strecke mit der Neuerfindung Auto gewagt. Heimlich hat sie sich ihre beiden Söhne geschnappt und ist mit ihnen im von ihrem Mann Carl entwickelten Patent-Motorwagen losgefahren. So hat sie das Automobil endlich salonfähig gemacht. Pionierleistungen der Extraklasse schafft heutzutage Elon Musk mit Tesla. Anfangs hat ihn keiner ernst genommen, inzwischen baut jeder Automobilhersteller Elektroautos. In Sachen E-Mobilität hat mich bei der letzten Rallye Dakar das neue Audi-Projekt enorm beeindruckt. Denn dieses völlig neue und komplexe rein elektrische Antriebssystem mit per Verbrennungsmotor angetriebenem Generator zum Batterieladen funktionierte bei seiner Weltpremiere einwandfrei. Es freut mich riesig, dass diese Pionierarbeit im allerhärtesten Wettbewerb funktioniert hat.
Die allergrößte Pioniertat der Mobilität ist für Sie …
… die erste Mondlandung. Was die NASA-Ingenieure da vor über 50 Jahren technisch geschafft haben, welches Risiko sie und die Astronauten gewagt haben, ist echt Wahnsinn. All die Steuerungstechnologien durch Computer, wie wir sie heute kennen, waren damals ja allenfalls Traumvorstellungen.
Der Weltraum fasziniert Sie sehr. Sie wären nach Ihrer Rennfahrerei gern auch noch Astronautin geworden, hatten dafür aber schon die Altersgrenze überschritten. Und wir haben gelesen, dass Sie sich gut vorstellen könnten, den letzten Tag ihres Lebens auf dem Mond zu verbringen. Wieso denn das?
Ich hatte das Privileg, viele der Herausforderungen, die ich mir erträumt habe, tatsächlich erleben zu können. Dabei habe ich die wundervollsten Orte in aller Welt gesehen, wo andere Menschen niemals hinkommen. Aber dieser eine so spezielle Ort fehlt mir noch in meiner Sammlung. Vom Mond aus kurz vor dem eigenen Ende unsere Erde von ganz weit draußen als Kugel betrachten zu können, das wäre ein einzigartiger Schlussgenuss. Bis dahin habe ich aber noch einiges andere vor …