„Mobilität in der Stadt wird elektrisch sein“
Frau Reeb, können Sie eigentlich noch entspannt durch eine City laufen und gemütlich shoppen, oder sehen Sie überall Defizite bei der Stadtplanung?
Naja, Zukunftsforscherin ist man ja 24 Stunden am Tag – und natürlich fallen einem Phänomene, die man beschreibt, auch auf. In Berlin gibt es ja auch schon Pilotversuche zu Shared Spaces …
Das sind Straßen, in denen alle Verkehrsteilnehmer ohne Trennung denselben Raum benutzen und die Autos entsprechend langsam fahren müssen – ein bisschen wie eine Spielstraße, oder?
Ja – und in der Maaßenstraße, die von sechs auf eine Spur zurückgebaut wurde, funktioniert es beispielsweise gar nicht. Alle sind genervt, die Leute finden keine Parkplätze mehr, die Geschäfte warten vergeblich auf Lieferungen, Restaurant-Gäste bleiben weg. Ein typischer Fall von gut gemeint, aber mit schlechtem Ergebnis.
Aber grundsätzlich gehören Shared Spaces schon zum Kern vieler Zukunftsvisionen einer lebenswerten Stadt, oder?
Auch, ja. Aber es gibt eben nicht das eine Konzept, das überall und immer passt. Man kann nicht Hauptverkehrsadern zu Spielstraßen machen. Sondern Lösungen suchen, die jeweils dort funktionieren.
Sharen, also teilen, kann man ja beispielsweise auch Autos …
Carsharing gehört zu wichtigen Lösungsansätzen, um die Städte zu entlasten. Man muss sein Kind ja nicht mit dem großen SUV in die Schule fahren, mit dem man auch in den Urlaub fährt, sondern es reicht ein kleines City-Mobil. Es wird künftig viel mehr flexible und auf den jeweiligen Use Case, den Einsatzzweck, spezialisierte Mobilitätsangebote geben, die man natürlich nicht alle kaufen kann. Andererseits wird das Auto aber auch seine Faszination als technisches Produkt behalten, das man besitzen möchte. Beides schließt sich nicht aus.
Stuttgart 2036
Das Daimler-Szenario „Stuttgart 2036“: Die Geografie ist sehr speziell. Die Stadt hat sich in einem Becken entwickelt und erstreckt sich mittlerweile über die Ränder ins Umland. Viele Zugangsrouten in das Stadtzentrum sind stark befahrene Hangstraßen. In der Zukunftsvision wird der Zugang zur Stadt nur emissionsfreien Fahrzeugen gewährt, die als Lenkungsmaßnahme zusätzlich eine Maut entrichten müssen. Im Bereich des ÖPNV ist ein Gondelsystem denkbar, das ein flexibles Zusteigen ohne Unterbrechungen des Gesamtverkehrs ermöglicht, indem die Masten gleichzeitig als Zugangsstationen fungieren. Ein Tunnelbus nutzt den Leerraum über der Straße, um den ÖPNV zu stärken. Sensorik und künstliche Intelligenz erlauben Fahrzeugen ein entspanntes Nebeneinander von Fußgängern und Verkehr.
Gibt es bei der Akzeptanz von geteilten Autos länderspezifische Unterschiede?
Oh ja, kulturbedingt. Europäer handeln eher als Gruppe, da funktioniert das Konzept. Amerikaner sehen sich als Einzelkämpfer, da will jeder sein eigenes Auto. Das wollen die Asiaten eigentlich auch – aber in China beispielsweise erschweren immer mehr Regularien den Kauf eigener Autos. Also weichen die Leute auf Carsharing aus.
In den hier gezeigten Szenarien bündeln Sie viele verschiedene Lösungen. Da sehen wir zum Beispiel eine Seilbahn. Die sind ja in südamerikanischen Metropolen ziemlich beliebt …
Dort dienen sie vor allem dazu, die Favelas an die City anzubinden. Sie können aber auch in europäischen Städten sinnvoll sein. Sie sind vergleichsweise schnell und preisgünstig zu bauen und verbrauchen wenig Verkehrsfläche.
Nicht sehr preisgünstig ist die City-Maut für Pkw, die Sie da vorschlagen: 98 Euro … wird Individualverkehr zum Luxusprodukt?
Da schluckt man natürlich zuerst mal, wenn man das sieht, keine Frage. Aber das ist als dynamisches Preismodell gedacht. Wenn nichts los ist, zum Beispiel nachts, kann es auch gar nichts kosten. Aber wenn alle mit dem Pkw fahren wollen, wird es eben teuer. Dann kann man auf ein anderes Verkehrsmittel umsteigen.
Wenn Umsteigen immer so einfach wäre …
Das ist ganz wichtig, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln reibungslos funktioniert. Convenience, Bequemlichkeit, ist der Schlüssel dafür, dass die Leute es annehmen. Es muss schnell gehen, ohne lange Lauferei dazwischen, die Bezahlung muss vereinheitlicht werden.
Shanghai
Das Daimler-Szenario „Shanghai“ repräsentiert die rapide wachsenden Städte im asiatischen Raum, die durch eine vertikale Bebauung eine enorme Dichte erreichen. Der öffentliche Nahverkehr wird in einer solchen Struktur noch facettenreicher. Erkennbar ist ein Trend zu „Urban Micro E-Mobility.“ Für die finanziell Gesegneten wird der automatisierte Transport durch Dronencopter attraktiv, um dem städtischen Chaos nach oben zu entkommen. Parkflächen werden immer wertvoller und in der Dichte immer stärker komprimiert. Dadurch entstehen flächenmäßig optimierte Parksysteme (Park towers).
Entzerren neue Lebens- und Arbeitsformen vielleicht auch den Pkw-Verkehr?
Es hilft natürlich auch, dass die Zahl derer wächst, die nicht nach dem starren Nine-to-five-Schema arbeiten. Es gibt mehr flexible Bürozeiten, mehr Menschen können von zu Hause aus arbeiten, moderne Kommunikationsformen ersetzen die Fahrt.
Perfekt! Alle bleiben zu Hause, Verkehrsprobleme gelöst …
Manchmal muss man aber eben auch vor Ort sein. Man kann nicht immer nur skypen, das persönliche Gespräch bleibt essenziell. Ich komme gerade eben von einem Meeting, bei dem es sehr gut war, dass ich selber da war.
Verändert sich das Pendel-System der Arbeitnehmer – außerhalb wohnen, in der City arbeiten?
Es gibt durchaus einen Trend zurück in die Stadt. Auch bei Familien, die ein eigenes Haus bewohnen möchten – in Anlagen, auf denen viele kleinere Stadthäuser auf ein Grundstück passen. Die haben dann natürlich kürzere Wege ins Büro.
Oder fußläufige? Gab es nicht mal die Idee, die wichtigen Dinge des urbanen Umfelds – also Wohnen, Büros, Geschäfte, Kultur – dezentral in kleinen Vierteln zu bündeln?
Wieviel Sinn hätte das? Die Leute ziehen ja gerade in die Stadt, weil es da diese Sachen im Zentrum gibt. Sie können ja nicht in jedes Viertel ein Opernhaus stellen.
Welche Rolle spielen Elektro-Fahrzeuge in der Stadt der Zukunft?
Die entscheidende. Mobilität in der Stadt wird künftig eine elektrische sein. Saubere Luft bekommen Sie nur mit lokal emissionsfreien Fahrzeugen hin. Das weiß jeder, der mal einen Tag im Smognebel von Peking verbracht hat. Mit Anreizen für Elektromobile und Verboten für Verbrennungsfahrzeuge wollen die Städte den Wechsel erzwingen, das geht ja in Deutschland auch schon los.
Convenience, Bequemlichkeit, ist der Schlüssel dafür, dass die Leute es annehmen
Daimler-Zukunftsforscherin Marianne Reeb
Die andere derzeit viel diskutierte Innovation bei Autos sind autonome Fahrzeuge. Wie wirkt sich das auf die urbane Mobilität aus?
Autonome Autos werden Teil der Mobilität – als eine Art Mischung aus individuellem und öffentlichem Verkehr. Wenn heute ein Schulbus mit Fahrer die Kinder abholt, dann könnte es morgen auch eine Art automatisches Großtaxi sein. Was immer noch besser wäre, als wenn alle Eltern ihr Kind selber bringen.
Werden die Bewohner autonomen Autos denn trauen, wenn die im Shared Space ohne Fahrer zwischen ihren spielenden Kindern herumkurven?
Also erst mal wird es noch eine ganze Weile dauern, bis die Technik wirklich so weit und sicher genug ist. Die bisherigen autonomen Testfahrten in der Stadt fanden ja auf ausgewählten Strecken unter kontrollierten Bedingungen statt. Und auch bis das Vertrauen in diese Technik kommt, wird es eine Zeit dauern. Ich erinnere mich an einen lustigen Fall in Japan, wo eine U-Bahn-Strecke automatisiert wurde – da saß in den ersten Monaten noch der Fahrer vorne. Der hatte zwar nichts zu tun, aber das beruhigte die Leute. Als er weg war, wurde der Platz zum beliebtesten unter den Passagieren.
Los Angeles
Das Daimler-Szenario „Los Angeles“ zeigt eine zukünftige Stadt, die maximal durch Autoverkehr geprägt wurde. Die extreme Ausdehnung in der Fläche wird auch in Zukunft Individualverkehr notwendig machen. Allerdings werden zentrale Bereiche nur für Pkw und Lkw mit umweltfreundlichen Antrieben offenstehen, die sich den Verkehrsraum mit Klein- und autonomen Fahrzeugen für Personen- und Warentransport teilen.
Muss sich der öffentliche Nahverkehr neu organisieren?
Er muss intelligenter werden, und flexibler. Was haben wir von Riesen-Bussen, die zweimal am Tag zu den Stoßzeiten trotz ihrer Größe überfüllt sind, aber die meiste Zeit fast leer herumfahren? Das sind vergeudete Ressourcen, die man nutzen kann. Warum dann nicht zum Beispiel Waren mit transportieren? Man denkt bei urbaner Mobilität immer nur an Menschen, aber einen großen Teil machen auch Güter aus. Früher kam morgens das Postauto, heute brettert alle paar Minuten ein Paket-Service durch die Straße.
Eine Folge des zunehmenden Versandhandels …
Auch, ja. Aber viele Transporter und Lkw sind bereits beim Losfahren nur halb beladen.
Künftig sollen ja einzelne Pakete per Drohne durch die Luft transportiert werden …
Das sehe ich sehr skeptisch. Wenn sich nur zehn Prozent des Güterverkehrs in die Luft verlagern würde, das ergäbe ein Geschwirre da oben, da möchten Sie nicht darunter wohnen oder leben.
Auch am Boden nimmt die Akzeptanz von Individualverkehr offenbar ab. Sind die Zeiten der autofreundlichen Stadt vorbei?
Ich würde das nicht schwarz-weiß sehen. Oft sind es ja dieselben Menschen, die in der Stadt leben und Auto fahren. Die Städte müssen die richtige Balance finden. Sie stehen künftig noch stärker als bislang im Wettbewerb um eine hohe Lebensqualität, und ein intelligentes Mobilitäts-Angebot ist ein ganz wichtiger Teil davon.
Wie schnell werden sich die Städte ändern?
Wie unser Vorstandsvorsitzender Dieter Zetsche sagt: Veränderungen geschehen oft nach dem Prinzip Ketchup-Flasche. Erst passiert lange gar nichts, dann kommt alles auf einmal.
Die Befragte
Seit 30 Jahren gibt es bei Daimler die Abteilung „Forschung für Gesellschaft und Technik“. Und seit 20 Jahren ist Prof. Marianne Reeb mit an Bord. Als „Manager Future, Life, Mobility“ im Bereich Research & Development ist die promovierte Diplombetriebswirtin mitverantwortlich für die Zukunftsforschung des Konzerns. Eines ihrer ersten Zukunftsthemen war das Carsharing. „Das ist aber nie richtig geflogen, denn in den 1980er-Jahren musste man das Auto noch telefonisch und drei Tage vorher reservieren.“ An der FH Potsdam lehrt sie zudem kulturellen und sozialen Wandel am Studiengang Kulturarbeit. Sie lebt in Berlin und Stuttgart.